Brief von Eurydike
(Manfred Klingele hatte gefragt, weshalb Samaras die Präsidentenwahl und damit die unvermeitlichen Neuwahlen des Parlaments vorgezogen hat.)
Lieber Manfred,
deine Frage erinnert mich an den Anruf eines Kollegens aus Brüssel, nach dem 2011 Papandreou ein Referendum angekündigt hatte. Er wollte von mir wissen, was zur Hölle dieser sich dabei gedacht hatte.
Meine damalige Antwort war die gleiche, die ich jetzt habe: Verzweifelte Umstände zwingen Politiker zu verzweifelten Maßnahmen. Papandreou hatte sich nicht plötzlich in die Demokratie verliebt; er war lediglich nicht mehr in der Lage, gleichzeitig mit dem Druck der Öffentlichkeit und dem der Gläubiger fertig zu werden. Sein Pokerspiel schlug fehl, und einige Tage später wurde er zum Rücktritt gezwungen.
Heute das gleiche. Samaras ist gestern elendig gescheitert, indem er nur 160 Stimmen bekam. Damit ist offen, ob er bis zu den Parlamentswahlen an der ND-Spitze überleben kann oder ob seine Partei ihn sogar noch davor ersetzt. Wenn – was außer Frage steht – die Regierung auch am 29. Dezember (nicht am 27, wie zunächst angekündigt) keine 180 Stimmen zusammen bekommt, wird es Wahlen geben, und zwar höchst wahrscheinlich am 25. Januar.
Es gibt bereits eine unglaubliche Angst-Kampagne. Es ist sehr vielsagend in Bezug auf die Absichten der EU, wie unverfroren sowohl Juncker (Konservative) als auch Moscovisci (Sozialisten)* gegen Syriza intervenieren. Es fühlt sich wirklich ganz wie in der Zeit vor den Wahlen 2012 an, mit dem Unterschied, dass diesmal Wut und Verzweiflung größer als die Furcht sind und Syriza gewählt werden wird.
Ich denke, dass überall in Europa die Leute beschämt darüber sein sollten, was aus der EU geworden ist, darüber, wie sie die Demokratie zerquetscht. Es fühlt sich wirklich an, als gäbe es nur zwei Alternativen: Entweder du gehorchst dem schärfsten neoliberalen Diktat oder du bist draußen.
Natürlich: Wenn Syriza an die Macht kommt, wird die Theorie des „guten Euro“, die Theorie, dass innerhalb des derzeitigen institutionellen Rahmens Spielraum für Verbesserungen vorhanden ist, solange es genug politischen Druck gibt, einem Praxis-Test unterworfen.
Diejenigen, die an diese Theorie glauben – und auch jene Linke, die, wie ich, nicht an sie glauben – werden so hart, wie sie können, daran arbeiten müssen, diesen Druck zu erhöhen.
Statt eines Abschiedsgrußes ende ich mit dem Syriza-Slogan von 2012, der heute realer denn je erscheint.
Ηρθε η ώρα της Αριστεράς! (Die Zeit der Linken ist gekommen)
Eurydike
* Den musste ich auch nachschlagen. Pierre Moscovici (PS Frankreich) ist neuer EU-Wirtschafts- und Finanzkommissar. (Wolfgang)
Englisch
Brief von Eurydike
Lieber Manfred! Your question reminds me of the colleague who called from Brussels, right after Papandreou announced a referendum in 2011, to ask what the hell was he thinking.
My answer then was the same as now. Desperate situations force leaders to take desperate steps.
Papandreou wasn’t suddently in love with democracy, he was simply unable to cope with both the pressure from society and the pressure from the creditors at the same time. His gamble failed and he was ousted a few days later.
Same thing now. Samaras failed miserably yesterday, getting only 160 votes. It is now open whether he ll survive at the ND leadership until the parliamentary elections or whether his party will unseat him even before that. When (not if) the government fails to get 180 votes on december 29th (not 27th, as was first announced) then there ll be elections, most probably January 25th.
There is already an incredible campaign of scaremongering going on. It is very telling of what the EU is all about that Juncker (conservative) and Moscovisci (socialist) both intervened so unabashedly against Syriza. It really feels like the 2012 pre-election period all over again, except for the fact that this time, anger and desperation will be stronger than fear and Syriza will be elected.
I think people all over Europe should be ashamed of what the EU has become, of how it squashes democracy. It really feels like you are either compliant with the harshest neoliberal diktats, or you re out.
Of course, when Syriza comes to power, the theory of the „good euro“, the theory that there are margins for improvement within the present institutional framework, as long as there is enough political pressure, will be put to the test.
Those who believe in this theory (and also left wingers who dont, as myself) must work as hard as they can to increase that pressure.
Instead of goodbye, I ll end with the Syriza slogan from 2012, that now seems more real than ever.
Ηρθε η ώρα της Αριστεράς! (The time of the left has come)
Eurydike