Grexit – für einen Tabubruch in der linken Debatte!

Grexit – für einen Tabubruch in der linken Debatte!

Daniel Tanuro*

„Sind Sie für den Grexit (den Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone)?“ Wenn mir eines Tages irgendein führender Politiker diese Frage stellen sollte (was Gott sei Dank wenig wahrscheinlich ist), würde ich ihn abblitzen lassen. Stattdessen würde ich ihm sagen, dass ich für die Annullierung der griechischen Schulden und für das Recht der griechischen Regierung bin, mit der Sparpolitik zu brechen, wofür sie auch gewählt worden ist und was 61% der Bevölkerung nochmals im Referendum unterstrichen haben. Auf mich können sie also nicht bauen, die Herren Schäuble, Dijsselbloem und all die anderen „wahren Finnen“, die Griechenland aus ihrem Verein werfen wollen, weil es ihnen zu armselig ist. Und diese meine Position ist wohl die einzig vertretbare, wenn man sich als internationalistischer Linker versteht und für das demokratische Recht der Völker auf Selbstbestimmung eintritt.
Wenn mir hingegen ein Linker dieselbe Frage stellt (was Gott sei Dank häufiger vorkommt), dann lautet meine Antwort anders. Zunächst einmal, dass das demokratische Recht des griechischen Volkes auf Selbstbestimmung ihm auch das Recht verleiht, aus diesem Verein auszutreten, in dem ihn die Reichen wie eine Zitrone ausquetschen, sein Land unter die Fuchtel nehmen, seine Reichtümer plündern und ihn obendrein noch demütigen. Und ich gehe sogar noch weiter und gebe denjenigen der GenossInnen in Griechenland recht, die in zunehmender Zahl für den Grexit eintreten.

Eine Frage politischer Zweckmäßigkeit

Die Linke in und außerhalb von Syriza muss gemeinsam mit allen, die gegen die tödlichen Auflagen des dritten Memorandums Widerstand leisten, für eine radikal linke Regierung kämpfen, die diesen Namen auch verdient. Eine Regierung, die sich den EU-Institutionen widersetzt und umgehend und konkret alle antikapitalistischen Maßnahmen ergreift, die für das Wohl der Bevölkerungsmehrheit unerlässlich sind, auch wenn ihr bewusst ist, dass sie damit die anderen Regierungen in der EU dazu veranlasst, das Land aus der EU auszuschließen. Auf diese Weise wäre erstens die Wahrscheinlichkeit größer, dass der Grexit unter Bedingungen und zu einem Zeitpunkt vonstattenginge, wie es die griechische Regierung beschließt. Dies hieße auch, dass eine Vielzahl von sofort umsetzbaren Dekreten ins Auge gefasst werden muss, basierend auf einer verfassungskonformen Notstandserklärung. Und zweitens würde damit der pro-kapitalistischen Streitmacht – und nichts anderes ist die EU – der größtmögliche Schaden zuteil.
Unter den konkreten heutigen Bedingungen gibt es nämlich einfach keine andere Lösung, wenn mensch die Interessen der Lohnabhängigen, Bauern, Rentner und Jugendlichen in Griechenland so gut – besser gesagt, so wenig schlecht – wie möglich verteidigen will. Und man käme damit einem erzwungenen Austritt zuvor, der de facto durch die aufgetürmten Auswirkungen des dritten Memorandums und/oder die Beschlüsse der EU-Instanzen herbeigeführt würde. Dies ist keine ideologische Frage, wie die linken Kritiker eines Grexit glauben machen wollen, sondern eine Frage der Zweckmäßigkeit.

Lieber zuvorkommen …

Das Abkommen, das die Eurogruppe Tsipras aufgezwungen hat – und das der wiederum dem griechischen Volk gegen den Mehrheitswillen der Leitungsmitglieder seiner eigenen Partei und mithilfe der Rechten und der Pasok aufgezwungen hat –, kann nur die Situation weiter verschlimmern, aufgrund derer Schäuble und Co Griechenland aus dem Euro drängen wollen. Die vorgesehenen Maßnahmen werden die Arbeitslosigkeit, den Einbruch der Konjunktur und die Abwanderung nur weiter verschlimmern, die im Abkommen verlangten Primärüberschüsse werden nicht erzielt werden, die Privatisierung des Staatsvermögens wird nicht die gewünschten Erfolge zeitigen und die Umschuldung wird nicht ausreichen, wobei das Abkommen notabene keine Minderung der Nominalschulden zulässt. Griechenland wird also noch tiefer im Elend versinken und die „Ordoliberalen“ werden nicht zögern, den Grexit wieder aufs Tapet zu bringen, nur dass die Bedingungen dann noch härter für das griechische Volk sein werden.
Dem kommt man besser zuvor, solange es noch Manövrierspielraum gibt. Auch politische Gründe sprechen dafür. Dadurch, dass Tsipras und seine Umgebung sich über das Votum der Bevölkerung einfach hinwegsetzen und dazu die Unterstützung der griechischen EU-Vasallen in Anspruch genommen haben, und dass auf diesem Weg eine ganze politische Kaste sich neu gruppiert, um eine infame, unwürdige, erniedrigende und zutiefst undemokratische Politik umzusetzen, entsteht die Gefahr, damit den Neonazis der Goldenen Morgenröte das Terrain aufzubereiten. Dies ist eine sehr reale Gefahr. Insofern stehen alle linken Kräfte, die für ein NEIN beim Referendum geworben haben, vor der historischen Verantwortung, sich umgehend zusammen zu schließen, um auf den legitimen Wunsch nach Souveränität mit einer gesellschaftspolitischen Antwort zu reagieren. Wir müssen uns zunutze machen, dass die Linke unter der Bevölkerung noch die weitaus größte Zustimmung genießt. Und dass die „nationale Krise“, d. h. „eine Krise der ganzen Nation“, wie Lenin es formulierte, im Grunde eine soziale Krise ist, was die Forderung nach einer Regierung auf die Tagesordnung setzt, die wirklich mit der Memorandumspolitik Schluss macht. Dabei muss die wichtigste Lehre aus den letzten sechs Monaten gezogen werden, dass man nämlich den Neoliberalismus nicht überwinden kann, indem man Verhandlungen nach den Spielregeln der Euro-Zone führt.

Mangelnde internationale Solidarität

Ein Grexit unter linken Vorgaben muss unverzüglich vorbereitet und in Angriff genommen werden. Dabei geht es nicht darum, ein Europa der Nationalstaaten aufs Schild zu heben und die nationale „Souveränität“ zu beschwören, der Grund ist vielmehr, dass die Lohnabhängigen und die Jugend in Griechenland seit Jahren schon, und erst recht in den letzten sechs Monaten, mit ihrem kämpferischen Engagement allein gelassen wurden.
Mit dem Wahlsieg von Syriza im vergangenen Januar wurde durchaus eine Bresche in die bleierne Last geschlagen, die auf die Arbeiterbewegung in ganz Europa drückt und sie würgt. Aber die traditionellen Führungen der Linken und der Arbeiterbewegung haben rein gar nichts unternommen, um diese Bresche zu verbreitern – ganz im Gegenteil. Der EGB hat sich gar gegen das Referendum gestellt und faktisch zu einem JA aufgerufen. Die Sozialdemokraten in Nord- und Südeuropa haben sich die traditionellen Rollen: „Guter Bulle, böser Bulle“ aufgeteilt. Und die radikale Linke – ob in Partei oder Gewerkschaft – war nicht dazu in der Lage, daran etwas zu ändern. Diese Feststellung mag schmerzen, aber sie wird dadurch nicht weniger wahr.

Podemos als Rettungsanker?

Man kann einwerfen, dass Podemos als Hilfe gereichen kann und bei einem Wahlsieg die Karten neu gemischt werden. Natürlich sind wir alle für einen solchen Wahlsieg, so wie wir auch mit Syriza gebangt haben. Aber abgesehen davon, dass dies ungewiss ist, kann man genauso wenig davon ausgehen, dass sich das Szenario, das wir in Griechenland in den letzten sechs Monaten erlebt haben, nicht wiederholt.
Pablo Iglesias [der Vorsitzende von Podemos] hat erklärt, dass er die Annahme des dritten Memorandums durch Tsipras unterstütze, und hat damit gezeigt, dass seine politische Orientierung gelinde gesagt ein ernstes Problem darstellt. Die Kommunalpolitik in Madrid und Barcelona wird ein erster Prüfstein auf dem weiteren Weg von Podemos sein. Es gibt sicherlich einen linken Flügel in Podemos (wie auch in Syriza) und auch die weitere Entwicklung dieser Partei ist angesichts ihrer Entstehungsgeschichte offener als bei Syriza. Insofern stellt sich uns die taktische Frage, ob durch die Orientierung auf einen Grexit unter linken Vorzeichen (denn der Ausstieg aus dem Euro geht nicht im Handumdrehen) Podemos in Richtung eines Bruchs mit dem System gedrängt würde oder eher in Richtung einer „neo-reformistischen“ Anpassung.
Wir neigen zur ersten Variante. Denn, wenn der Grexit eindeutig als Bruch mit der Austeritätspolitik und als Aufstand gegen die Despotie angelegt wird, wird dies das Bewusstsein schärfen und zur Nachahmung animieren. Genauso wie mit der kurzen NEIN-Kampagne zum Referendum die Solidarität mit dem griechischen Volk in den anderen Ländern der EU signifikant zugenommen hat, weil das NEIN als ein Akt des offenen Widerspruchs zum herrschenden System begriffen wurde.

Ein Grexit unter internationalistischen Vorzeichen

Das bedeutet, dass ein Grexit unter linken Vorzeichen auch internationalistisch angelegt sein muss. Und zwar dergestalt, dass es als Botschaft der Lohnabhängigen und Jugend in Griechenland an ihre Brüder und Schwestern in ganz Europa begriffen wird, mit dem Inhalt: „Tut uns leid, aber wir haben keine andere Wahl. Wir hatten gehofft, Auslöser für einen gemeinsamen Kampf gegen dieses kapitalistische Europa zu werden. Aber wir begreifen Eure Probleme, die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Entwicklungsschritte und all die Hindernisse, die vor Euch liegen. Seid Euch trotzdem über unsere Ziele im Klaren: Wir wollen weiterhin gemeinsam mit Euch die EU stürzen, um gemeinsam ein anderes Europa aufzubauen. Insofern sind wir weiterhin mit Euren Kämpfen solidarisch und erwarten von Euch, dass Ihr Euch auch mit uns solidarisiert. Denn dies werden wir bitter brauchen können, da uns ein dorniger Weg bevorsteht.“

Kein Zuckerschlecken …

In der Tat wird der Grexit kein Zuckerschlecken werden, sondern immense Probleme aufwerfen, zumal am Anfang. Der einzige Weg, damit fertig zu werden, wird darin liegen, eine wirklich komplett andere Politik, nämlich eine ökosozialistische zu betreiben. Für die Wirtschaftspolitik gibt es schon eine Reihe konkreter Vorschläge dafür, die verschiedene linke Wirtschaftswissenschaftler in Syriza ausgearbeitet haben.
Aber der Kern der Angelegenheit ist politischer Natur: die Selbstorganisation und die Selbstverwaltung in den Wohnvierteln anzuregen; auf das Beispiel des „partizipativen Haushalts“ zurückzugreifen, das wir von Porto Alegre in dessen besseren Zeiten her kennen; Volkskomitees zur Kontrolle der Preise und ihre Offenlegung auf einer Website zu errichten; die sozialen Ungleichheiten zu mindern und gegen die Bürokratie zu kämpfen; die Emanzipation der Frauen zu fördern; die „illegalen“ EinwanderInnen zu integrieren; die Kleinbauern für sich zu gewinnen, indem Nahrungssouveränität statt Agrarindustrie in den Mittelpunkt gestellt wird (regionale Produktion, Zusammenarbeit zwischen Erzeugern und Verbrauchern); forcierter Umbau der Energieerzeugung auf erneuerbare und effiziente Quellen; die pharmazeutische Herstellung von Nachahmerpräparaten zu organisieren; eine andere Art von Tourismus zu entwickeln, … und mithilfe des Tourismus auf die öffentliche Meinung in Europa einzuwirken. Dies sind nur ein paar Beispiele. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein solches Programm zu entwerfen, sondern die GenossInnen in Griechenland werden sich damit befassen und wir werden gegebenenfalls von ihnen lernen.

Ein mühsamer, aber alternativloser Weg

Die Vorstellung, dass ein Land mit dem Euro brechen könnte, gilt oft als Tabu unter linken und internationalistischen EU-Gegnern, wie auch wir es sind. Nicht weil wir Illusionen in die EU hätten oder glaubten, die EU ändern oder ein soziales Europa im Rahmen der EU schaffen zu können. Sondern weil es unser Anliegen ist, die EU zu zerschlagen und durch ein anderes – demokratisches, soziales und offenes – Europa zu ersetzen, nämlich durch die Vereinigten sozialistischen Staaten Europas als einzigem Weg, eine plausible antikapitalistische Alternative realisieren zu können. Die tiefe und durch die EU noch vorangetriebene Spaltung zwischen den Ländern zwingt uns heute, im Falle Griechenlands mit diesem Tabu zu brechen und einen weniger geradlinigen Weg zu unserem Ziel einzuschlagen. Daraus folgt keineswegs, dass wir für einen Frexit, Brexit, Italexit oder was auch immer eintreten. Aber jetzt geht es darum, dem griechischen Volk einen Ausweg aus der Strangulation zu eröffnen, und da gibt es nun mal keinen anderen.

*Daniel Tanuro ist Leitungsmitglieder der LCR-SAP, belgische Sektion der IV. Internationale

Übers.: MiWe

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Stathis Kouvelakis über die Lehren aus den letzten Wochen die Perspektive für Syriza und die europäische Linke.

19150414239_5f1d014a79_b_demonstration-athensGriechenland: Stathis Kouvelakis über die Lehren aus den letzten Wochen die Perspektive für Syriza und die europäische Linke.

Was waren die Ursachen für das Referendum im Juli? Für viele kam es aus heiterem Himmel, als Trumpf, den der griechische Premier Alexis Tsipras aus dem Ärmel geschüttelt hatte. Aber es herrscht einige Unsicherheit über seine Motive – manche spekulieren sogar, dass er mit einer Niederlage gerechnet haben soll.

Ich meine, dass das Referendum ganz klar ein Versuch war, sich aus der Falle zu befreien, in welche die Regierung im Verhandlungsprozess geraten ist.

Es war tatsächlich recht offensichtlich, dass die Regierung wie Tsipras im Laufe der Abwärtsspirale immer weiterer Zugeständnisse erkannt haben, dass kein Vorschlag die Troika jemals zufriedengestellt hätte. In der letzten Juniwoche war dann klar, dass die Vereinbarung, die sich langsam herauskristallisierte, innerhalb von Syriza durchfallen würde und ebenso auch in der öffentlichen Meinung.

Aus den parteieigenen Reihen, auch weit über die Linke Plattform hinaus, gab es Appelle an die Führung und an Tsipras selbst, dass dies nicht akzeptabel sei. Am Ende jener Woche gab es dann einen deutlichen Umschwung in der öffentlichen Meinung. Die Leute hatten den Prozess endloser Verhandlungen schlichtweg satt. Es herrschte die Auffassung, dass die Troika ausschließlich darauf aus war, die griechische Regierung zu demütigen.

Tsipras, von dem man sagen muss, dass er als Politiker durchaus ein Spieler ist, verstand das Referendum – eine Idee die übrigens nicht gänzlich neu war und bereits von anderen Personen in der Regierung ins Spiel gebracht worden war, unter anderem von Yanis Varoufakis – nicht als Bruch mit dem Verhandlungsprozess, sondern als Schachzug, um seine Verhandlungstaktik zu stärken.

 Das Gespräch zum Download als PDF hier

Quelle: Griechenland: Der Kampf geht weiter – marx21marx21

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Interview mit neuem griechischen Arbeitsminister Georgios Katrougalos

„Wir werden arbeiten unter Respektierung der der Bevölkerung gemachten Versprechen“, sagt der neue Arbeitsminister Giorgos Katrougalos, bislang Vize-Innenminister Griechenlands und zuständig für die Reform der Verwaltung. Auch Katrougalos hält die Kürzungspolitik eigentlich für die falsche Antwort auf die Krise. Nun muss er genau diese Politik exekutieren. Er hält aber daran fest, dass er „ein Arbeiterminister der Linken sein werde“ und er „die Sprache dieses Abkommens, das vollkommen auslegbar ist“ zugunsten der Bevölkerung nutzen werde.Er ist sich sicher, dass Syriza „vereint bleiben“ wird.

Frage: Fürchten sie nach dem Austausch der Minister nicht, dass sich innerhalb von Syriza eine unwiderrufliche Kluft geöffnet hat?

Georgios Katrougalos: Ich glaube nicht, dass die politischen Differenzen, die in den letzten Tagen in Syriza aufgetreten sind, unüberwindliche Spannungen in unserer Partei erzeugen. Persönlich verstehe ich völlig die Entscheidung meiner Genossen, aber ich glaube auch, dass man seine Verantwortung wahrnehmen muss und dafür die Umbesetzung obligatorisch war. Doch trotz der politischen Differenzen, die unsere Partei umtreiben – und es hat sie immer gegeben innerhalb von Syriza – bin ich sicher, dass wir vereint bleiben werden.

Frage: Nachdem Sie in der ersten Regierung Tsipras den Schlüsselposten des Ministeriums für den Öffentlichen Dienst innehatten, stehen Sie jetzt an der Spitze des Arbeitsministeriums, einen weiteren Posten mit hohen Risiken. Über welche Manövrierräume verfügen Sie noch im Gefolge des letzten mit der Troika abgeschlossenen Abkommens?

Georgios Katrougalos: Praktisch gesprochen, gehen die Verhandlungen weiter. Und die erste Sache, die ich sagen will, ist, dass ich ein Arbeiterminister der Linken sein werde. Ich bestehe auf diesem Punkt. Wir haben sicherlich Einschränkungen in manchen Bereichen, aber wir sind und bleiben eine Regierung der Linken. Zum Beispiel die erste Maßnahme, die ich ergriffen habe, war der sofortige Stopp der kollektiven Entlassungen, die für die Beschäftigten der Metro von Thessaloniki angekündigt worden waren. Wir werden auch unser Bestes tun bei den nicht bezahlten Löhnen, damit sie nicht verloren sind. Wir werden arbeiten unter Respektierung der der Bevölkerung gemachten Versprechen. Was für uns in dieser neuen Periode günstig ist, das ist die Sprache dieses Abkommens, das vollkommen auslegbar ist. Die Gläubiger sagen uns: jetzt muss sich das Weiterverhandeln in der Praxis vollziehen. Nehmen wir sie beim Wort. Stützen wir uns auf das, was ist, und handeln wir! Auf des europäische Sozialmodell zum Beispiel, das zu den neoliberalen Vorschlägen im Gegensatz steht, die dieses Abkommen durchsetzen möchte. Das wir für die Gelegenheit sein, weiter unsere linken Ideen zu befördern und sie mit denen zu konfrontieren, die in den letzten fünf Jahren Gesetze gegen die Arbeiter hervorgebracht und das Land in die Armut geworfen haben. Es muss also weiter an einem finalen Kompromiss gearbeitet werden, der Ende August – Anfang September zu Tage treten müsste. Man muss die verbleibenden Verhandlungsspielräume ausschöpfen. Es wird keine Ferien geben. Diese Woche werden in Brüssel neue technische Angelegenheiten wieder auf den Tisch kommen.

Frage: Sie haben es gerade gesagt, es gibt in diesem Abkommen zahlreiche antisoziale Aussagen. Besonders wird der Gedanke einer Überprüfung der Gewerkschaftstätigkeit erwähnt. Sind heute in Griechenland die gewerkschaftlichen Rechte bedroht?

Georgios Katrougalos: Es gibt politische Kräfte in Europa, die unter Nutzung dieser Verhandlungen jedes soziale Recht in Griechenland kassieren möchten. Aber wir werden einer solchen Erpressung nicht nachgeben. Wir haben über unsere Verteidigung bei diesem Thema nachgedacht. Und diese Verteidigung – das sind einfach die europäischen Normen. Bis zum Beweis des Gegenteils schützen sie weiterhin das Bestehen gewerkschaftlicher Rechte. Das europäische Sozialrecht ist die beste Verteidigung. Was die kollektiven Entlassungen angeht, werden wir uns auch das stützen, was vorhanden ist. Wir werden methodisch zur Überprüfung der verschiedenen Gesetze zu dieser Angelegenheit in jedem der Länder der Eurozone übergehen, und dann werden wir uns an das oder die halten, die unseren Werten am nächsten liegen, um einen Text abzustimmen, den zurückzuweisen Europa sich schwer tun wird.

Frage: Sie haben das griechische Ministerium für Öffentliche Verwaltung geleitet, was wird mit ERT (öffentliches Fernsehen) geschehen, das im Gefolge dieses neuen Abkommens erneut bedroht ist?

Georgios Katrougalos: Weder das griechische öffentliche Fernsehen noch die Putzfrauen, die im Finanzministerium wiedereingestellt worden sind, noch alle jene, die in den letzten zehn Monaten im Öffentlichen Dienst eingestellt worden sind, laufen Gefahr, sich in der Arbeitslosigkeit wiederzufinden. Auch da werden wir uns auf Abkommen stützen, die schon existieren zwischen Brüssel und Griechenland. Wir werden auf einen Text zurückgreifen, der daran erinnert, dass es im Haushalt der Regierung Samaras eine Möglichkeit gab, 15.000 Staatsbedienstete wiedereinzustellen. Wir haben davon 5.000 wieder übernommen. Es bleiben 10.000 Stellen zu besetzen. Wir haben übrigens schon die Prioritäten festgelegt im Bereich des Gesundheitswesens, der Bildung und des Mechanismus zur Steuerkontrolle. Dazu haben wir überkreuzte Kontrollen bei den Bankkonten und den Steuererklärungen eingeführt. Wir haben ein vor seiner Endfassung stehendes Abkommen mit der Schweizer Regierung, damit man erfahren kann, welche superreichen Bewohner Griechenlands Konten in der Schweiz besitzen. Das ist einer der seltenen Punkte, bei denen wir mit den Deutschen einig sind, die auf gleiche Weise mit Bern operieren.

aus „Humanité“, 20. Juli 2015
Übersetzung: Georg Polikeit

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Ausnahmsweise auch sachlich..

Es scheint sich in manchen deutschen Medien so etwas wie Vernunft zu verbreiten…..

Ob höhere Steuern auf Agrardiesel oder verkaufsoffene Sonntage: Die Forderungen an die griechische Regierung gingen in den letzten Wochen sehr ins Detail.
Erstaunlich nur: Was deutsche Politiker von Griechenland so vehement einfordern, lehnen sie im eigenen Land entschieden ab. Mit den gleichen Argumenten wie die von ihnen kritisierte griechische Regierung.”

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Über Märchenerzähler und Legendenbildner

Michael Prütz /NaO

Die Niederlage der SYRIZA-Regierung hat die Linke in ganz Europa vor die Frage gestellt, wie es weitergehen soll. Dabei kommt die Niederlage von SYRIZA nicht überraschend, denn die griechische Regierung hat nicht ernst- haft über Alternativen zum jetztigen System und der EU disktuiert. Eine Linke, die gewinnen will, muss sich allerdings klar sein, dass das nicht im Rahmen der europäischen Union geht, mein Michael Prütz von der Neuen Antikapitalistischen Organisation.

Die Aufrufe, Schäuble und Merkel zu stürzen, sind genauso zahlreich wie erfolglos. Sie sind schon deswegen erfolglos, weil der ostdeutsche Teil der Linken jetzt mal sechs Wochen auf der Datsche verbringt, und der eher subkulturell geprägte Teil der west- deutschen Linken von Festival zu Festival reist und sicherlich nicht für „große“ Politik ansprechbar ist. Zeit also, innezuhalten, und mit einigen Märchen aufzuräumen, die es im Moment in der deutschen Linken über die Politik von Syriza gibt.

Das erste Märchen ist die These, dass die Syriza-Regierung nur eine taktische Niederlage erlitten hätte, die schon in Kürze von einer Offensive abgelöst werden kann. Ein Staat, der durch das dritte Memorandum, das Tsipras unterschrieben hat, auf den Status einer Halbkolonie zurückgeworfen wird; ein Staat, der sein gesamtes Vermögen an die Gläubiger verscherbeln muss und der eine Bevölkerung in Demoralisierung und Ratlosigkeit zurück lässt; diesen Staat und seine Regierung als nur taktisch auf dem Rückzug zu sehen, ist blind und fahrlässig oder beides. Für den historisch Interessierten erinnert das alles an die Äußerungen von Ernst Thälmann auf der letzten Zentralkommittee-Sitzung der KPD im Februar 1933, als er Hitlers Sieg für nicht endgültig hielt und schon in Kürze mit der Offensive des revolutionären Proletariats rechnete. Diese feige Kapitulation der Tsipras-Leute vor den Forderungen der Gläubiger ist eine strategische Niederlage aller Linken in Europa und wird auch in anderen Ländern deutliche Auswirkungen haben. Jeder vernunftbegabte Mensch in Europa wird sich fragen: Wieso soll ich rebellieren und eine andere Politik wählen, wenn das Ergebnis schlimmer ist, als das, was ich vorher hatte.

Die nächste Verteidigungslinie der Märchenerzähler ist die angebliche Alternativlosigkeit der Tsipraschen Entscheidung, das neue Memorandum zu unterschreiben. Tatsache ist, dass es vermessen wäre, von Deutschland aus konkret alle Alternativen aufzuzeigen, die Tsipras gehabt hätte, Tatsache ist aber auch, dass Syriza in der gesamten Zeit ihrer Regierung nicht daran dachte, Alternativen zu denken, geschweige denn vorzubereiten. Tsipras und seine Freunde haben wirklich geglaubt, dass sie im Rahmen der EU-Institutionen Kraft ihrer Argumente Veränderungen herbeiführen können. Welche Naivität und Blindheit bringt diese Leute dazu, nach dreißig Jahren neoliberaler Politik der EU auf Veränderungen durch Worte zu setzen? Nebenbei sei bemerkt, dass auch im Inneren Griechenlands Syrizas Politik gegen Oligarchen und andere Kapitalisten eher nicht stattgefunden hat, beziehungsweise bestenfalls mit dem Mikroskop zu sehen ist.

Und munter weiter geht es mit den Legenden und Märchenerzählungen: Wir hier in Deutschland dürfen der Tsipras-Regierung keine „Zensuren“ geben, weil wir ja selber hier nichts auf die Reihe kriegen. Dieses Argument ist insofern bemerkenswert, weil es jeder Erfahrung der Linken und der Arbeiterbewegung seit hundert Jahren widerspricht. Lenin hat die deutschen Sozialdemokraten kritisiert, Luxemburg hat Lenin kritisiert, Tito hat Stalin kritisiert, Mao Tse Tung hat Moskau kritisiert – Kritik an den Entscheidungen des jeweiligen anderen ist ja gerade das Lebenselixier einer Linken, die sich entwickeln will und die nicht auf dem Stand nationaler Borniertheit verharren will. Gerade weil wir in Europa leben, kann eine europäische Linke nur entstehen, wenn sie sich kritisiert und gegenseitig befruchtet. Ernster zu nehmen ist schon das Argument, dass die Linke hierzulande wenig bis nichts auf die Reihe kriegt, um ihre eigenen Herrschaftsverhältnisse zu verändern. Aber bevor man anfängt, die eigenen Herrschaftsverhältnisse zu verändern, muss doch erstmal Klarheit darüber hergestellt werden, mit welchem Gegner oder Feind man es überhaupt zu tun hat. Bodo Ramelow, der hochgepriesene Ministerpräsident der Linkspartei in Thüringen, sah als wichtigstes Ergebnis der Übereinkunft zwischen Tsipras und der EU an, dass die Eurozone nicht auseinander gefallen sei. Genau das ist der springende Punkt: Linkspartei und andere glauben, dass die Eurozone in ihrer jetzigen Verfasstheit durch ein wie auch immer geartetes Wunder zu reformieren sei, und dass im Rahmen dieser Institutionen eine andere Politik möglich sei. Im Rahmen dieser Institutionen ist aber keine andere Politik möglich, was das griechische Beispiel jetzt ja gerade bewiesen hat. Solange also die Feindbestimmung nicht klar ist und solange es für einen großen Teil der Linken wichtig ist, dass die EU als Europäische Union zusammen- bleibt, solange kann es ja wohl auch keinen gemeinsamen Kampf zum Sturz von wem auch immer geben.

Die Illusion einer reformerischen Veränderung der europäischen Institutionen setzt sich nun fort, in dem manche sagen, man müsse nun auf einen Wahlsieg von Podemos in Spanien setzen, die dann den Griechen zu Hilfe kommen würden. Das Problem ist bloß, dass Podemos die Wahlen in Spanien nicht gewinnen wird, und nur an eine Regierung kommen würde, wenn sie zusammen mit den Sozialdemokraten regieren – und genau diese Sozialdemokraten verlangen als Preis einer Regierungsbeteiligung die Anerkennung eben dieser europäischen Institutionen. Der Einbruch bei den Wahlumfragen von Podemos nach der griechischen Kapitulation zeigt eben genau die Wechselwirkung zwischen den Ereignissen in einem Land und den Menschen in anderen Ländern. Eine alternative Strategie der griechischen Regierung hätte sicherlich große Probleme für die Bevölkerung in Griechenland selber gebracht. Das Ergebnis einer solchen Strategie ist nicht klar, sie hätte aber auf jeden Fall eines geschafft: Die EU in ihrer jetzigen Verfasstheit in eine tiefe Krise zu stürzen, und der Ausgang dieser Krise wäre absolut offen gewesen. Und das ist doch das, was wir wollen. Wir wollen die Auflösung der EU als kapitalistische Profitmaschine zum nächstmöglichen Zeitpunkt.

Auf die Kräfteverhältnisse zurückkommend ist also erstmal klar zu machen, um was es sich bei der EU handelt. Dies ist überhaupt die Voraussetzung, um einen ernsthaften politischen Kampf zu gewinnen. Jeder, der sich mit den Dingen befasst, weiß, dass die Solidarität mit Griechenland in Deutschland sehr schwer zu organisieren ist und sicherlich im Moment nur eine Minderheit erreichen kann. Das wäre nicht schlimm, wenn wenigstens die Linke in ihrer ganzen Breite sich dieses Themas annehmen würde, denn immerhin hat die Linkspartei in Deutschland 65000 Mitglieder und dreieinhalb Millionen Wählerinnen und Wähler, und es gibt zehntausende von außerparlamentarischen Aktivisten, die in verschiedenen politischen Feldern engagiert sind. Tatsache ist aber auch, dass jetzt auf dem Höhepunkt der griechischen Krise, sich bestenfalls 8 – 10000 Menschen in die Solidaritätsarbeit eingebracht und öffentliche Aktionen durchgeführt haben. Dies ist das Ergebnis eines langjährigen Verfalls strategischer Diskussionen in der Linken, die sich in ihrem außerparlamentarischen Flügel schon lange mehrheitlich mit subkulturellen Minderheitsthemen beschäftigt, und die in ihrem parlamentarischen Flügel, also der Linkspartei tief in die Verwaltung des kapitalistischen Systems verstrickt ist. Jedes außergewöhnliche Ereignis, wie die Ereignisse in Griechenland, bringt diese Leute völlig durcheinander.

Statt also moralisierend anklagend die herrschende Politik zu bejammern, wäre es wichtig, eine strategische Debatte zu beginnen – darüber, was eine wirkliche Linke will und wie sie es durchsetzen kann. Ob diese Debatte wirklich beginnt, weiß ich nicht, ich sehe eher schwarz.

Ein Gastbeitrag von Michael Prütz, von der „Neuen Antikapitalistischen Organisation“ (NaO Berlin)


							
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Die Rückkehr der „deutschen Frage“

Von Peter Schwarz
22. Juli 2015

„Die deutsche Frage ist zurück“, schrieb Anfang letzter Woche die New York Times. Sie meint damit die Frage, wie Deutschland unter Kontrolle gehalten und daran gehindert werden kann, Europa zu dominieren und wie im Zweiten Weltkrieg zu zerstören. Im Laufe der Woche häuften sich in der französischen, italienischen, britischen und der amerikanischen Presse Artikel, die der deutschen Regierung vorwerfen, sie wolle Europa beherrschen und ihrer Disziplin unterwerfen.

Das konservative französische Blatt Le Figaro schrieb, eine „antideutsche Turbulenzzone“ überquere derzeit Frankreich: „Ein Teil der französischen politischen Klasse, der von den Souveränisten in der Linksfront über die Sozialisten bis zu Mitgliedern der Republikaner [der ehemaligen UMP] reicht, greift Deutschland wegen seiner Haltung in der Europäischen Union an.“ Linke wie Rechte attackierten wütend das „deutsche Diktat“. Der Figaro selbst warf der deutschen Regierung vor, sie habe „einem kleinen Mitgliedsland Bedingungen aufgezwungen, die früher nur mit Waffengewalt hätten durchgesetzt werden können“.

In italienischen Medien war von Staatsfolter und germanischem Machtwahn die Rede.

In der Londoner Financial Times warf Wolfgang Münchau „Griechenlands Gläubigern“ vor, sie hätten „die Eurozone, wie wir sie kannten, und die Idee einer Währungsunion als Schritt zu einer demokratischen politischen Union zerstört“ und seien „zu den nationalistischen europäischen Machtkämpfen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückgekehrt“.

Im Telegraph meldete sich der Londoner Bürgermeister Boris Johnson vom rechten Tory-Flügel zu Wort und beschuldigte „die Deutschen“, sie hätten „ein Papier vorgelegt, dessen Offenheit und Brutalität einem den Atem verschlägt“. Wenn Griechenland im Euro bleiben wolle, müsse sich Athen „in einem Akt hündischer Selbsterniedrigung unterwerfen“, warf er dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble vor. Seine Vorschläge seien „tyrannisch“. „Man sollte ihnen heftigen Widerstand leisten.“

Der Soziologe Jürgen Habermas sagte dem Guardian, die deutsche Regierung habe „in einer Nacht all das politische Kapital verspielt, das ein besseres Deutschland in einem halben Jahrhundert angesammelt hat“. Mit „besser“ meine er „ein Deutschland, dass sich durch größere politische Sensibilität und eine post-nationale Mentalität auszeichnet“.

Drohung mit dem Grexit

Anlass für diese heftigen Attacken waren die demütigenden Bedingungen, die Deutschland der griechischen Regierung aufgezwungen hatte. Berlin war nicht bereit, ein drastisches Sparangebot über 13 Milliarden Euro zu akzeptieren, das Athen in Zusammenarbeit mit Paris ausgearbeitet und angeboten hatte. Es verlangte mehr, darunter die Übereignung von Staatseigentum im Wert von 50 Milliarden Euro an einen von Deutschland kontrollierten Treuhandfonds, und drohte mit dem vorübergehenden Ausschluss des Landes aus dem Euro.

Die jüngste Ausgabe des Spiegel berichtet, dass Wolfgang Schäuble die Bedingungen absichtlich so hart formuliert hatte, dass die griechische Regierung sie nicht annehmen konnte und ein Grexit unausweichlich wurde. Der deutsche Finanzminister hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass der griechische Regierungschef Tsipras trotzdem kapitulieren würde.

Der Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone stellte einen Tabubruch dar, den Paris und Rom nicht hinnehmen konnten. Ein Grexit hätte einen Präzedenzfall geschaffen, der den bisherigen Charakter der EU und des Euroraums völlig verändert hätte. Aus einer Staatengemeinschaft, die zumindest der Form nach auf einstimmigen oder Mehrheitsentscheidungen beruht, wäre ein loser, von Deutschland dominierter Verbund geworden. Berlin hätte fortan bestimmt, wer der Eurozone angehört und wer nicht. Und es hätte seinen Druck auf die französische, die italienische und andere Regierungen mit Haushaltproblemen erhöht, sich den deutschen Regeln zu fügen, und ihnen angesichts wachsender sozialer Spannungen jeden Raum für politische Manöver genommen.

Deshalb ließ sich der französische Präsident François Hollande nach dem Eurogipfel als Architekt eines „Kompromisses“ feiern, der den Grexit verhindert und so die Einheit Europas gewahrt habe, obwohl er den griechischen Regierungschef gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Ratspräsident Donald Tusk die ganze Nacht über bearbeitet hatte, das harte deutsche Spardiktat anzunehmen.

Deutschlands Rückkehr zur Großmachtpolitik

Die World Socialist Web Site und die Partei für Soziale Gleichheit (PSG) haben seit langem davor gewarnt, dass die herrschende Klasse Deutschlands zu ihren aggressiven und militaristischen Traditionen zurückkehrt. Schon im September 2014 hieß es in einer Konferenzresolution der PSG: „Die herrschenden Eliten des Landes, die die Welt bereits zweimal in den Abgrund gestürzt haben, rufen erneut nach ‚deutscher Führung‘ und schicken sich wieder an, ihre imperialistischen Interessen mit militärischer Gewalt durchzusetzen. … Knapp 70 Jahre nach den Verbrechen der Nazis und der Niederlage im Zweiten Weltkrieg knüpft die herrschende Klasse Deutschlands wieder an die imperialistische Großmachtpolitik des Kaiserreichs und Hitlers an.“

Die PSG und ihre Jugend- und Studentenorganisation, die IYSSE, wurden heftig angegriffen, weil sie Politiker, Journalisten und Professoren, die diese Politik vertreten und ideologisch rechtfertigen, öffentlich kritisierten. In den vergangenen Wochen entfesselten die Medien eine regelrechte Hetzkampagne gegen die IYSSE und die Gruppe „Münkler-Watch“, weil sie die Humboldt-Professoren Herfried Münkler und Jörg Baberowski als Wegbereiter einer deutschen Großmachtpolitik entlarvt hatten. Die Hetzkampagne sollte jeden einschüchtern, der es wagt, der deutschen Großmachtpolitik und ihren ideologischen Wegbereitern entgegenzutreten, und die Kritik daran als Hirngespinst und Verschwörungstheorie abtun, die jeder realen Grundlage entbehrt.

Doch nun ist die Rückkehr der „deutschen Frage“ zu einem zentralen Thema in den internationalen Medien geworden. Nach den Ereignissen der letzten Tage kann nicht mehr geleugnet werden, dass die herrschenden Eliten des Landes die Vorherrschaft über Europa anstreben, um wie einst Kaiser Wilhelm und Hitler eine Weltmachtrolle zu spielen.

Finanzminister Wolfgang Schäuble und der Politikwissenschaftler Herfried Münkler zählen zu den Wortführern dieser Orientierung, die innerhalb der Regierung und den politischen Parteien zu erheblichen Spannungen geführt hat.

In der Abstimmung des Bundestags über das Griechenlandpaket verweigerten mit 65 Unions-Abgeordneten so viele wie noch nie der Bundeskanzlerin die Gefolgschaft. Ihr Nein war ein Votum für einen Grexit, für den Schäuble nach wie vor wirbt, obwohl er sich offiziell hinter Angela Merkel gestellt hat, die einen solchen Schritt vorläufig noch ablehnt.

Nach Ansicht von gut informierten Hauptstadtjournalisten steht sogar die Mehrheit der Unions-Fraktion hinter Schäuble. Viele hätten nur mit Ja gestimmt, weil sie Merkels Kanzlerschaft momentan nicht gefährden wollten. Die Süddeutsche Zeitung sieht in der Abstimmung das „Ende der Allmacht Merkels“, der „in Wolfgang Schäuble ein Nebenkanzler erwachsen“ sei.

Schäuble wolle „ein anderes, ein effektiveres, ein disziplinierteres Europa“, schreibt Heribert Prantl in derselben Zeitung. Der Zweck der Drohung mit dem Grexit bestehe darin, „die Euro-Zone zu stabilisieren, in dem man ein Exempel an Griechenland statuiert und zugleich all den Ländern, Italien etwa, die sich nicht an die geltenden Regeln halten wollen, eine Lektion erteilt.“

Der Finanzminister plädiere seit Längerem „für einen EU-Haushaltskommissar, der die nationalen Haushalte streng kontrollieren soll“. Prantl bezeichnet das als „eine Art Demokratur“: Es „wäre weniger Demokratie in Europa, brächte aber mehr Disziplin in der EU“.

Mit anderen Worten, Schäuble und seine Unterstützer in Politik und Medien streben ein Europa an, das von Deutschland dominiert und diszipliniert wird und ihm als Plattform für eine globale Weltmachtpolitik dient. Schäuble hatte dieses Konzept bereits 1994 im sogenannten Schäuble-Lamers-Papier unter dem Stichwort „Kerneuropa“ entwickelt. Damals schlug er vor, die EU auf einen harten Kern um Deutschland zu reduzieren, um den sich die anderen EU-Staaten lose gruppieren.

Für dieses Ziel tritt auch Herfried Münkler ein. In seinem jüngsten Buch „Macht in der Mitte“ fordert er, Deutschland müsse in Europa die Rolle des „Zuchtmeisters“ übernehmen – ein Begriff, der sich mit Schäubles Absichten deckt und sich in Medien und Politik zunehmender Beliebtheit erfreut.

In den vergangenen Tagen hat sich Münkler in zahlreichen Interviews für ein „Kerneuropa“ eingesetzt, um das sich ein zweiter und dritter Ring mit „weniger Rechten, aber auch weniger Verpflichtungen“ gruppiere. Zum Kern zählt er Deutschland, die Beneluxstaaten, Frankreich und – möglicherweise – Italien.

Die Verfechter eines von Deutschland dominierten Europas betrachten die Disziplinierung Griechenlands und Europas als Voraussetzung für eine deutsche Weltmachtpolitik. Jochen Bittner hat das in der Zeit deutlich ausgesprochen. Die Europäische Union dürfe „nie wieder so viel politische Energie in ein vergleichsweise so kleines Problem“ wie Griechenland investieren, schreibt er dort, sie habe „nämlich Wichtigeres zu tun“. Es müsse „wieder Raum und Zeit sein für die größeren Herausforderungen“. Dazu zählt er „zerfallende Staatsstrukturen rund ums Mittelmeer, ein Flüchtlingsandrang von historischen Ausmaßen, eine revanchistische russische Regierung … und ein Wettbewerbsrennen mit Asien.“

Ähnlich argumentiert Holger Steltzner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Die Unfähigkeit der EU, die griechische Krise zu lösen,“ schreibt er, „steht im Widerspruch zu einem zentralen Argument der Rettung, dem Anspruch auf europäische Gestaltungsmacht in der Welt.“

Dieser „Anspruch auf Gestaltungsmacht in der Welt“ bringt Deutschland nicht nur in Konflikt mit anderen europäischen Mächten, sondern auch mit den USA. Vertreter der US-Regierung und Präsident Obama hatten sich mehrmals kritisch über das deutsche Spardiktat geäußert und Berlin zu einer nachgiebigeren Haltung gegen Griechenland gedrängt. Sie taten dies vorwiegend aus geostrategischen Gründen. Sie fürchten, soziale Unruhen könnten die Ostflanke der Nato destabilisieren und Griechenland unter den Einfluss Russlands oder Chinas bringen.

Die Spannungen zwischen Deutschland und den USA haben aber grundlegendere Ursachen. Sie treffen weltweit als wirtschaftliche Rivalen aufeinander. Das Tempo, mit dem der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) weniger als eine Woche nach Abschluss des Atomabkommens mit dem Iran an der Spitze einer Wirtschaftsdelegation in Teheran einfiel, um dort als erster vom erhofften Auftragsboom zu profitieren, zeigt anschaulich, mit welcher Aggressivität Deutschland seine globalen Wirtschaftsinteressen verfolgt.

Schäubles Kritiker in Deutschland – die Grünen, die Linkspartei, ein Teil der SPD und ein kleiner Teil der CDU – haben lediglich taktische Differenzen. Sie fürchten, ein scharfer Konflikt mit Frankreich, Italien, Großbritannien und anderen europäischen Mächten könnte Deutschland in Europa isolieren und damit auch global schwächen. Sie betrachten eine funktionierende EU als Voraussetzung, um auch global eine Großmachtrolle spielen zu können. Deshalb plädieren sie für die Rückkehr zur Europapolitik Helmut Kohls, der stets versucht hatte, die deutsche Vorherrschaft in Europa durch politische Kompromisse oder finanzielle Zugeständnisse abzusichern.

Die ökonomischen Voraussetzungen für eine solche Politik existieren aber nicht mehr. Die gemeinsame Währung, die Deutschland ursprünglich einbinden sollte, hat das Gegenteil bewirkt und Deutschlands ökonomische Dominanz gestärkt. Ein Leistungsbilanzüberschuss von 7,5 Prozent des BIP (Tendenz steigend) gibt ihm eine Übermacht, die die EU in ihrer alten Form sprengt. Seit der globalen Finanzkrise von 2008 ist das immer deutlicher geworden.

Deutschlands europäische Rivalen reagieren darauf, indem sie ihrerseits mit dem Säbel rasseln. Ihre Kritik an der deutschen Regierung ist weitgehend reaktionär. Das gilt nicht nur für ausgesprochene Rechte, wie Boris Johnson und Marine Le Pen, sondern auch für Pseudolinke wie den Führer der französischen Linksfront Jean-Luc Mélenchon. Sie appellieren nicht an die internationale Solidarität der Arbeiterklasse, sondern schüren anti-deutschen Chauvinismus. Sie verteidigen so die Interessen ihrer eigenen imperialistischen Bourgeoisie und verschärfen die nationalen Spannungen, die Europa wie in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts unweigerlich wieder in scharfe Auseinandersetzungen und Kriege stürzen werden, wenn die Arbeiterklasse nicht rechtzeitig eingreift. . . . .

Auszug Webseite wsws

 

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“Durch Diskussion allein kann die Troika nicht überzeugt werden”

Quelle: SoZ – Sozialistische Zeitung
Website: http://www.sozonline.de
Veröffentlichung: 19. Juli 2015

Griechenland: Ein alternativer Vorschlag zur Kapitulation vom 15./16.Juli 2015
Eric Toussaint (1)

In der Nacht vom 15. auf den 16.Juli hat das griechische Parlament auf Verlangen des Premierministers vor den Forderungen der Gläubiger kapituliert und damit den Willen der griechischen Bevölkerung, wie er am 5.Juli seinen Ausdruck gefunden hatte, mit Füßen getreten. 32 Abgeordnete von Syriza haben die Ehre der Partei gerettet, indem sie dagegen gestimmt haben (hinzu kommen 7 Abgeordnete von Syriza, die sich enthalten haben). Mit der Ablehnung der Kapitulation haben diese Abgeordneten das Wählermandat und das Parteiprogramm respektiert und sich der Erpressung nicht gebeugt. Der Premierminister hat eine Mehrheit bekommen dank der Parteien der Rechten: Nea Dimokratia, Pasok (die nichts Sozialistisches mehr an sich hat), To Potami und die Unabhängigen Griechen. Das hat die Situation radikal verändert.

Am 5.Juli 2015 hat die griechische Bevölkerung in dem von der Regierung Tsipras und dem griechischen Parlament iniiierten Referendum die Fortsetzung der Austeritätspolitik massiv zurückgewiesen, die die Institutionen, vormals Troika genannt, ihr aufzwingen wollten. Das war ein wunderbarer Sieg der Demokratie.

Das Abkommen, das am Morgen des Montags, 13.Juli, geschlossen und in der Nacht vom 15. auf den 16.Juli vom griechischen Parlament gebilligt wurde, setzt die Austerität im Rahmen eines neuen, mehrjährigen Abkommens fort. Es steht in krassem Widerspruch zum Ergebnis des Referendums. Das Parlament hat dieses Abkommen unter dem Druck der Drohungen der Gläubiger angenommen, dass anderfalls die Banken pleite gehen und ein Grexit unvermeidlich ist; sie haben der griechischen Regierung gewissermaßen die Pistole an die Schläfe gehalten.

Das Abkommen sieht vor, dass Syriza eine Reihe sehr bedeutender Verpflichtungen, die die Partei im Wahlkampf eingegangen war und die ihr am 25.Januar einen historischen Wahlsieg eingebracht haben, aufkündigt. Syriza hatte Verantwortung vor der griechischen Bevölkerung übernommen, und es ist tragisch, dass die Mehrheit ihrer Abgeordneten und Minister dieser Verantwortung nicht gerecht geworden ist <\#208> zumal angesichts des sehr eindeutigen Wählervotums vom 25.Januar.

Die Konzessionen an die Gläubiger betreffen die Renten, die weiter gekürzt werden (während Syriza sich verpflichtet hatte, die 13.Monatsrente für Renten unterhalb von 700 Euro im Monat wieder einzuführen), zugleich wird das Renteneintrittsalter angehoben; die Löhne werden nicht angehoben; die Arbeitsverhältnisse werden noch prekärer; die indirekten Steuern werden auch für die untersten Einkommen weiter erhöht; die Privatisierungen werden beschleunigt fortgesetzt; neue, illegitime Schulden aufgehäuft (mindestens 80 Mrd. zusätzlich), um die bisherigen bedienen zu können und die Banken zu rekapitalisieren, während sie gleichzeitig in privater Hand gelassen werden, die für die Krise verantwortlich ist; wertvolle griechische Aktiva werden in einen unabhängigen Fonds transferiert; wichtige Bestandteile des Selbstbestimmungsrechts aufgegeben; die Macht des Parlaments gegenüber den Gläubigern geschwächt…

Im Gegensatz zu denen, die behaupten, im Gegenzug zu diesen unheilvollen Zugeständnissen würde Griechenland drei Jahre Atempause bekommen und die griechische Wirtschaft wieder auf Vordermann bringen können, wird die Wirklichkeit zeigen, dass der fortgesetzte Druck auf die private Nachfrage und die öffentlichen Ausgaben es unmöglich machen, den Haushaltsüberschuss zu erwirtschaften, den der Plan vorsieht.

In wenigen Monaten, spätestens Anfang nächsten Jahres werden die Gläubiger die griechische Regierung angreifen, weil sie den Haushaltsüberschuss nicht erreicht hat und neue Forderungen stellen. Es wird keine Verschnaufpause für die Bevölkerung und für die Regierung geben. Die Gläubiger werden damit drohen, die vereinbarten Raten nicht freizugeben, wenn nicht weitere Sparmaßnahmen ergriffen werden. Die griechische Regierung ist in der Schuldenfalle gefangen. (2)

Die Kommission für die Wahrheit über die öffentlichen Schulden, die von der Parlamentspräsidentin eingerichtet wurde, ist in ihrem ersten vorläufigen Bericht, der am 17. und 18.Juni 2015 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, zu dem Schluss gekommen, dass die Schulden, deren Bedienung die Gläubiger einfordern, als illegitim, illegal und moralisch verwerflich betrachtet werden müssen. Die Kommission hat auch gezeigt, dass sie nicht tragfähig sind. Auf der Grundlage von Argumenten, die sich auf das Völkerrecht und auf das griechische Recht stützen, hätte die griechische Regierung einseitig die Bedienung der Schulden unterbrechen müssen, bis der Schuldenaudit vollständig durchgeführt ist. Eine solche Unterbrechung der Zahlungen ist absolut möglich. Seit Februar 2015 hat Griechenland 7 Mrd. Euro an die Gläubiger zurückgezahlt, ohne dass diese die 7,2 Mrd. gezahlt hätten, die im Rahmen des Programms, das am 30.Juni ausgelaufen war, vorgesehen waren. Auch weitere Gelder hätten an Griechenland überwiesen werden müssen und wurden es nicht: die Zinsen aus den griechischen Staatsanleihen der EZB; die Mittel für die Rekapitalisierung der Banken, usw. Hätte Griechenland den Schuldendienst gegenüber den internationalen Gläubigern unterbrochen, hätte es fast 12 Mrd. Euro gespart, die es bis Jahresende 2015 zahlen soll (3). Es hätte damit die Gläubiger unter Druck setzen können, Zugeständnisse zu machen. Die Höhe der Gesamtschulden hätte drastisch reduziert werden können, sei es auf dem Weg von Verhandlungen, sei es durch einseitige Zahlungseinstellung im Fall ihres Scheiterns. Indem sie das Abkommen vom 13.Juli umsetzt, macht sich die Regierung unmittelbar mitschuldig an der Verletzung von Menschenrechten, nur um illegitime, illegale, moralisch verwerfliche und untragbare Schulden zurückzuzahlen.

Jede und Jeder konnte sich davon überzeugen, dass es unmöglich ist, durch Diskussion allein die Europäische Kommission, den IWF, die EZB und die neoliberalen Regierungen in den anderen EU-Ländern davon zu überzeugen, Maßnahmen zu ergreifen, die die Rechte der griechischen Bürgerinnen und Bürger achten. Das Referendum vom 5.Juli hat sie nicht beeindruckt, sie haben es bekämpft. Im Gegenteil, sie haben ihre Forderungen noch radikalisiert und elementare demokratische Rechte mißachtet. Ohne starke, einseitige Maßnahmen der Selbstverteidigung können die griechische Regierung und die Bevölkerung die von den Gläubigern geforderte, anhaltende Verletzung der Menschenrechte nicht stoppen. Es müssten auf europäischer Ebene eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen werden, um soziale Gerechtigkeit und eine authentische Demokratie wiederherzustellen.

Technisch gesehen ist es nicht schwer, solche Maßnahmen zu ergreifen, aber man muss feststellen, das unter den gegebenen politischen Umständen und beim in der EU vorherrschenden Kräfteverhältnis Länder mit fortschrittlichen Regierungen nicht darauf hoffen können, dass sie von der EU-Kommission, der EZB oder dem ESM gehört oder gar unterstützt werden. Im Gegenteil, sowohl diese Institutionen wie der IWF und die bestehenden neoliberalen Regierungen der anderen Länder haben die Erfahrungen, die in Griechenland gemacht wurden, aktiv bekämpft, um allen Völkern Europas zu beweisen, dass es zum neoliberalen Modell keine Alternative gibt. Im Gegenzug hätte die griechische Regierung den Institutionen durch entschiedene Maßnahmen reale Zugeständnisse entreißen oder sie auch einfach zwingen können, ihre Entscheidungen zu respektieren. Zu Unrecht hat die Regierung Tsipras den Weg der permanenten Verhandlungen eingeschlagen mit dem alleinigen Ziel, ein neues Abkommen mit den Gläubigern zu erreichen, während man es hätte beenden müssen.

Von grundlegender Bedeutung wäre auch gewesen, eine alternative Strategie auf Massenmobilisierungen in Griechenland und in anderen Ländern Europas aufzubauen. Die griechischen Behörden hätten sich darauf stützen können, um den zahlreichen Isolierungsbemühungen aller oppositioneller Kräfte entgegenzuarbeiten, die sich gegen eine Wende hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit gestemmt haben. Damit hätte die griechische Regierung die Mobilisierungen und das Selbstvertrauen der Bürgerinnen und Bürger gestärkt. Das Referendum vm 5.Juli hätte ein Schlüsselmoment für diese Mobilisierung sein können. Doch der Sieg des NEIN, dem eine riesige Massendemonstration vorausging, wurde nicht respektiert: Schon am Morgen danach setzte sich die Regierung mit den rechten Parteien zusammen, um einen Vorschlag an die Institutionen auszuarbeiten, der unannehmbare Zugeständnisse an die Gläubiger enthielt.

Nebst der Aussetzung der Bedienung der illegitimen, illegalen, moralisch verwerflichen und untragbaren Schulden gibt es noch weitere Maßnahmen, die hiermit der demokratischen Debatte unterbreitet werden sollen, denn sie können Griechenland helfen, sich wieder aufzurichten. Natürlich wird es nicht die gegenwärtige Regierung sein, die sie umsetzen wollen wird.

1.
Die öffentliche Hand in Griechenland ist bei weitem der größte Aktionär der großen griechischen Banken – sie hält über 80% des gesamten griechischen Bankensektors. Sie müsste also in der Lage sein, die Banken vollständig zu kontrollieren, um die Ersparnisse der Bürger zu schützen und die interne Kreditvergabe anzukurbeln, damit der Konsum gestärkt wird. Auf der anderen Seite müsste die Tatsache, dass der Staat Mehrheitseigner der Banken ist, dazu genutzt werden, ihnen den Status öffentlich-rechtlicher Einrichtungen zu geben. Der Staat müsste eine geordnete Insolvenz dieser Banken einleiten, um die Kleinaktionäre und die Sparer zu schützen (vollständiger Einlagenschutz bis zu 100.000 Euro). Die Kosten für die Rekapitalisierung der Banken müssen aus dem Vermögen der privaten Großaktionäre geschöpft werden, denn sie sind es, die die Krise verursacht und anschließend die staatliche Unterstützung missbraucht haben. Eine Bad Bank wäre zu schaffen, um die toxischen Papiere zu isolieren und sie anschließend abzustoßen.

Man muss die Verantwortlichen für die Bankenkrise ein für allemal zur Kasse bitten, den Finanzsektor grundlegend sanieren und ihn in den Dienst der Bevölkerung und der Realwirtschaft stellen.

2.
Die griechischen Behörden müssen die Zentralbank unter ihre Kontrolle stellen. An ihrer Spitze steht heute Yannis Stournaras, der in diesen Posten von der Vorgängerregierung Antonis Samaras gehievt wurde. Er verwendet seine ganze Energie darauf, den Wandel, den die Bevölkerung will, zu torpedieren. Er ist ein wahres trojanisches Pferd, der die Interessen der großen Privatbanken und der neoliberalen europäischen Regierungen bedient. Die griechische Zentralbank muss in den Dienst der Interessen der griechischen Bevölkerung gestellt werden.

3.
Die griechische Regierung hat auch die Möglichkeit, für den landesinternen Gebrauch eine elektronische Währung zu schaffen (in Euro konvertierbar). Der Staat könnte die Renten und die Löhne im Öffentlichen Dienst erhöhen und die humanitären Leistungen an die Betroffenen auszahlen, indem er ihnen einen Kredit in elektronischer Währung eröffnet, den sie für verschiedene Zahlungen nutzen können: Strom- und Wasserrechnung, öffentliche Verkehrsmittel, Steuern, Einkauf von Grundlebensmitteln im Einzelhandel, usw. Im Gegensatz zu einem unbegründeten Vorurteil hätten selbst die privaten Ge- schäftsleute jedes Interesse daran, dieses elektronische Zahlungsmitel zu akzeptieren, denn das erlaubt ihnen, ihre Waren loszuwerden und zugleich ihre Rechnungen bei der öffentlichen Hand zu begleichen (Steuern und diverse von ihnen genutzte Dienst- leistungen). Die Schaffung einer solchen zusätzlichen elektronischen Währung würde den Bedarf nach Euros verringern. Transaktionen in dieser Währung könnten per Handy geleistet werden, wie dies heute schon in Ecuador der Fall ist.

4.
Die Kapitalverkehrskontrollen müssen bleiben und es muss eine Kontrolle über die Kon- sumgüterpreise verhängt werden.

5.
Die Privatisierungsbehörde muss aufgelöst und durch eine öffentliche Agentur zur Verwaltung der öffentlichen Güter ersetzt werden. Sie hat die Aufgabe, das öffentliche Vermögen zu schützen und Einkommen daraus zu erzielen. Die Privatisierungen müssen sofort gestoppt werden.

6.
Neue Maßnahmen der Steuergerechtigkeit sind erforderlich, um diese deutlich zu stärken. Insbesondere müssen die 10% Reichsten (vor allem das 1% der Superreichen) stark besteuert werden, sowohl ihre Einkommen wie auch ihr Vermögen. Es empfiehlt sich auch, die Kapitalertragssteuer für große private Unternehmen stark anzuheben und die Steuerfreiheit für Rüstungsproduzenten aufzuheben. Auch die orthodoxe Kirche muss stärker besteuert werden; sie hat 2014 nur ein paar Millionen Euro Steuern gezahlt.

7.
Die Steuern auf die unteren Einkommen und kleinen Vermögen müssen radikal reduziert werden, das käme der Mehrheit der Bevölkerung zugute. Die Steuern auf Grund- lebensmittel und Leistungen der Daseinsvorsorge müssen ebenfalls stark gesenkt werden. Eine Reihe von Leistungen der Daseinsvorsorge müssen kostenlos zur Verfügung gestellt werden (etwa Strom und Wasser bis zu einem gewissen Verbrauch; der öffentliche Verkehr, usw.). Dies sind Maßnahmen der sozialen Gerechitgkeit, die den Konsum wiederankurbeln werden.

8.
Der Kampf gegen die Steuerhinterziehung muss intensiviert, für große Steuersünder müssen sehr abschreckende Maßnahmen eingeführt werden. Damit können erhebliche Einnahmen erzielt werden.

9.
Es braucht einen umfassenden Plan zur Schaffung von Arbeitsplätzen mit dem Ziel, den öffentlichen Sektor wiederaufzubauen, der durch die jahrelange Sparpolitik am Boden liegt (etwa im Gesundheits- und im Bildungswesen); damit können auch die ersten Schritte in Richtung eines ökologischen Umbaus unternommen werden.

10.
Der Wiederaufbau des öffentlichen Sektors muss Hand in Hand gehen mit einer aktiven Unterstützung der kleinen Privatinitiativen, die heute in Griechenland in Form von Mikrounternehmen eine zentrale Rolle spielen.

11.
Es braucht eine Politik der internen Kreditvergabe durch Ausgabe von Staatsanleihen (öffentlichen Schuldentiteln) für das Landesinnere. Der Staat muss Geld aufnehmen können, um die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern, etwa durch In- vestitionen in die öffentliche Infrastruktur. Einige dieser Maßnahmen können durch bewusste politische Entscheidung aus dem laufenden Haushalt finanziert werden, öffentliche Anleihen können darüberhinaus aber für die Finanzierung vno Großprojekten herangezogen werden – etwa um den Weg aus der Autogesellschaft durch massiven Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel zu schaffen, oder um die Entwicklung umwelt- freundlicher erneuerbarer Energien voranzutreiben, ein dichtes Netz von Regional-Eisenbahnen im ganzen Land zu schaffen, angefangen bei den Ballungsräumen, oder auch um ein Programm der Gebäudesanierung und des Baus von komfortablen Sozialwohn- ungen nach neuen energetischen Standards in Angriff zu nehmen. Auch der oben genan- nte Plan zur umfassenden Schaffung von Arbeitsplätzen muss finanziert werden.

Ganz dringend bedarf es einer transparenten Politik der öffentlichen Anleihen. Wir machen folgenden Vorschlag:
1. öffentliche Anleihen müssen der Verbesserung der Lebensbedingungen dienen und dürfen die Umwelt nicht schädigen;
2. öffentliche Anleihen müssen einen Umverteilungseffekt haben, damit die soziale Ungleichheit verringert wird. Dazu schlagen wir vor, dass die Finanzinstitute, die großen Privatunternehmen und die reichen Haushalte gesetzlich gezwungen werden, Staatsan- leihen zu 0% Zinsen und ohne Inflationsausgleich in einer Höhe zu erwerben, die im Verhältnis zu ihrem Vermögen und ihrem Einkommen steht. Der Rest der Bevölkerung kann öffentliche Anleihen freiwillig erwerben, zu einem positiven Realzins (oberhalb der Inflationsrate). (Wenn z.B. die jährliche Inflation 2% beträgt, kann der Nominalzins der Anleihen auf 5% festgelegt werden). Eine solche Maßnahme der positiven Diskriminierung (vergleichbar den Maßnahmen in den USA gegen die Rassendiskriminierung oder in Indien gegen das Kastensystem oder gegen die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen) kann dazu beitragen, mehr Einkommensgerechtigkeit und eine gerechtere Ver- teilung der Vermögen zu schaffen.

Schließlich müssen die griechischen Behörden darauf achten, dass die Kommission für den Schuldenaudit und die Kommissionen, die sich mit den Kriegslasten beschäftigen, weiter arbeiten.

Weitere zusätzliche Maßnahmen sind denkbar und müssen diskutiert und demokratisch entschieden werden. Die genannten Sofortmaßnahmen sind die dringlichsten und können in fünf Paketen zusammengefasst werden:

* der Staat muss die Kontrolle über die Banken und teilweise über die Geldschöpfung bekommen;

* Steuerbetrug muss bekämpft und eine gerechte Steuerreform in Angriff genommen werden,  die dem Staat die notwendigen Mittel verschafft, seine Politik umzusetzen;

* das öffentliche Vermögen muss geschützt und in den Dienst des Gemeinwesens gestellt werden;

* die öffentlichen Dienste müssen wiederhergestellt und ausgebaut werden;

* nachbarschaftliche Privatinitiative muss unterstützt werden.

Es ist gleichermaßen nötig, in Griechenland einen konstituierenden Prozess mit aktiver Bürgerbeteiligung in Gang zu setzen, um strukturelle demokratische Änderungen auf den Weg zu bringen. Dazu wird es der Wahl einer konstituierenden Versammlung (durch allgemeine Wahl) benötigen, die einen neuen Verfassungsentwurf ausarbeitet. Die Verfassungsgebende Versammlung muss die Beschwerden der Bevölkerung und ihre Vorschläge zu deren Behebung entgegennehmen und berücksichtigen; über den Entwurf muss es eine Volksabstimmung geben.

Ausstieg aus dem Euro. Nach dem Abkommen vom 13.Juli ist der freiwillige Ausstieg aus dem Euro eine klar zu verfolgende Option. Mehr und mehr verstehen die Griechen und die BürgerInnen anderer Länder Europas, dass es innerhalb der Eurozone keine für die Völker günstigen Lösungen geben wird. Die oben genannten Maßnahmen sind auch für den Fall eines Ausstiegs aus dem Euro geeignet, das gilt insbesondere für die Vergesellschaftung der Banken nach dem Vorbild der Verstaatlichung des französischen Bankensystems nach der Befreiung 1945. Die genannten Maßnahmen müssen dann mit einer umfassenden Währungsreform mit Umverteilungsfaktor kombiniert werden, etwa nach dem Modell der Währungsreform in Belgien nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine solche Reform würde die Einkommen derer belasten, die sich auf Kosten anderer bereichert haben. Das Prinzip ist einfach: Beim Währungsumtausch gibt es nicht automatisch eine Parität zwischen der alten und der neuen Währung (etwa ein Euro gegen eine Drachme), eine solche Parität würde nur bis zu einem gewissen Level gelten.

Oberhalb dessen müssen überschüssige Geldguthaben auf ein Sperrkonto überwiesen und der Ursprung des Geldes offengelegt werden. Was oberhalb des Limits liegt, wird zu einem ungünstigeren Kurs getauscht (etwa zwei Euro gegen eine Drachme). Im Fall erwiesener unrechtmäßiger Herkunft des Geldes kann die Summe eingezogen werden. Eine solche Währungsreform erlaubt eine sozial gerechtere Umverteilung des Reichtums. Ein weiteres Ziel der Reform ist, die zirkulierende Geldmenge zu verringern und damit inflationistische Tendenzen zu bekämpfen. Damit die Reform Wirkung zeigt, braucht es strikte Kapitalverkehrs- und Devisenkontrollen.

Anbei ein Beispiel – natürlich lassen sich die Größenordnungen verändern, nachdem eine Untersuchung der Verteilung der Sparguthaben der privaten Haushalte stattgefunden hat und klare Maßstäbe entwickelt wurden:

1€ gegen 1 neue Drachme (nD) für Geldguthaben bis zu 200.000 Euro;

1€ gegen 0,7 nD für Guthaben zwischen 200.000 und 500.000 Euro;

1€ gegen 0,4 nD für Guthaben zwischen 500.000 Euro und einer Million;

1€ gegen 0,2 nD oberhalb von 1 Million Euro.

Verfügt ein Haushalt über 200.000 Euro, bekommt er 200.000 nD.

Verfügt er über 400.000 Euro, bekommt er 200.000+140.000 = 340.000 nD.

Verfügt er über 800.000 Euro, bekommt er 200.000 + 210.000 + 120.000 = 530.000 ND.

Verfügt er über 2 Millionen Euro, bekommt er 200.000+210.000+200.000 +200.000 = 810.000 ND.

Damit kann eine wahrhaft alternative Logik ingang gesetzt werden. Und Griechenland kann sich endlich aus der Knute der Gläubiger befreien. Die Völker Europas könnten wieder Hoffnung auf eine Wende zu mehr Gerechtigkeit schöpfen. Dazu muss die Massenmobilisierung in Griechenland und in ganz Europa verstärkt werden.

(1) Eric Toussaint ist Doktor der Politischen Wissenschaften an der Universität Lüttich und Paris VIII. Er ist Sprecher des internationalen Komitees für die Streichung der Schulden, CADTM, und koordiniert in dieser Eigenschaft die Wahrheitskommission über die Staatsschulden, die von der griechischen Parlamentspräsidentin im April 2015 ins Leben gerufen wurde.

(2) Der Autor dankt Stavros Tombazos, Daniel Munevar, Patrick Saurin, Michel Husson und Damien Millet für ihre Hilfe bei der Abfassung dieses Dokuments. Die Verantwotung für den Inhalts des Textes liegt gänzlich beim Autor.

(3) 6,64 Mrd. Euro und 5,25 Mrd.Euro müssen bis Dezember 2015 jeweils an die EZB und an den IWF gezahlt werden. Quelle: Wall Street Journal, http://graphics.wsj.com/greece-debt-timeline/, Stand: 12.Juli 2015.

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