Grexit – für einen Tabubruch in der linken Debatte!
Daniel Tanuro*
„Sind Sie für den Grexit (den Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone)?“ Wenn mir eines Tages irgendein führender Politiker diese Frage stellen sollte (was Gott sei Dank wenig wahrscheinlich ist), würde ich ihn abblitzen lassen. Stattdessen würde ich ihm sagen, dass ich für die Annullierung der griechischen Schulden und für das Recht der griechischen Regierung bin, mit der Sparpolitik zu brechen, wofür sie auch gewählt worden ist und was 61% der Bevölkerung nochmals im Referendum unterstrichen haben. Auf mich können sie also nicht bauen, die Herren Schäuble, Dijsselbloem und all die anderen „wahren Finnen“, die Griechenland aus ihrem Verein werfen wollen, weil es ihnen zu armselig ist. Und diese meine Position ist wohl die einzig vertretbare, wenn man sich als internationalistischer Linker versteht und für das demokratische Recht der Völker auf Selbstbestimmung eintritt.
Wenn mir hingegen ein Linker dieselbe Frage stellt (was Gott sei Dank häufiger vorkommt), dann lautet meine Antwort anders. Zunächst einmal, dass das demokratische Recht des griechischen Volkes auf Selbstbestimmung ihm auch das Recht verleiht, aus diesem Verein auszutreten, in dem ihn die Reichen wie eine Zitrone ausquetschen, sein Land unter die Fuchtel nehmen, seine Reichtümer plündern und ihn obendrein noch demütigen. Und ich gehe sogar noch weiter und gebe denjenigen der GenossInnen in Griechenland recht, die in zunehmender Zahl für den Grexit eintreten.
Eine Frage politischer Zweckmäßigkeit
Die Linke in und außerhalb von Syriza muss gemeinsam mit allen, die gegen die tödlichen Auflagen des dritten Memorandums Widerstand leisten, für eine radikal linke Regierung kämpfen, die diesen Namen auch verdient. Eine Regierung, die sich den EU-Institutionen widersetzt und umgehend und konkret alle antikapitalistischen Maßnahmen ergreift, die für das Wohl der Bevölkerungsmehrheit unerlässlich sind, auch wenn ihr bewusst ist, dass sie damit die anderen Regierungen in der EU dazu veranlasst, das Land aus der EU auszuschließen. Auf diese Weise wäre erstens die Wahrscheinlichkeit größer, dass der Grexit unter Bedingungen und zu einem Zeitpunkt vonstattenginge, wie es die griechische Regierung beschließt. Dies hieße auch, dass eine Vielzahl von sofort umsetzbaren Dekreten ins Auge gefasst werden muss, basierend auf einer verfassungskonformen Notstandserklärung. Und zweitens würde damit der pro-kapitalistischen Streitmacht – und nichts anderes ist die EU – der größtmögliche Schaden zuteil.
Unter den konkreten heutigen Bedingungen gibt es nämlich einfach keine andere Lösung, wenn mensch die Interessen der Lohnabhängigen, Bauern, Rentner und Jugendlichen in Griechenland so gut – besser gesagt, so wenig schlecht – wie möglich verteidigen will. Und man käme damit einem erzwungenen Austritt zuvor, der de facto durch die aufgetürmten Auswirkungen des dritten Memorandums und/oder die Beschlüsse der EU-Instanzen herbeigeführt würde. Dies ist keine ideologische Frage, wie die linken Kritiker eines Grexit glauben machen wollen, sondern eine Frage der Zweckmäßigkeit.
Lieber zuvorkommen …
Das Abkommen, das die Eurogruppe Tsipras aufgezwungen hat – und das der wiederum dem griechischen Volk gegen den Mehrheitswillen der Leitungsmitglieder seiner eigenen Partei und mithilfe der Rechten und der Pasok aufgezwungen hat –, kann nur die Situation weiter verschlimmern, aufgrund derer Schäuble und Co Griechenland aus dem Euro drängen wollen. Die vorgesehenen Maßnahmen werden die Arbeitslosigkeit, den Einbruch der Konjunktur und die Abwanderung nur weiter verschlimmern, die im Abkommen verlangten Primärüberschüsse werden nicht erzielt werden, die Privatisierung des Staatsvermögens wird nicht die gewünschten Erfolge zeitigen und die Umschuldung wird nicht ausreichen, wobei das Abkommen notabene keine Minderung der Nominalschulden zulässt. Griechenland wird also noch tiefer im Elend versinken und die „Ordoliberalen“ werden nicht zögern, den Grexit wieder aufs Tapet zu bringen, nur dass die Bedingungen dann noch härter für das griechische Volk sein werden.
Dem kommt man besser zuvor, solange es noch Manövrierspielraum gibt. Auch politische Gründe sprechen dafür. Dadurch, dass Tsipras und seine Umgebung sich über das Votum der Bevölkerung einfach hinwegsetzen und dazu die Unterstützung der griechischen EU-Vasallen in Anspruch genommen haben, und dass auf diesem Weg eine ganze politische Kaste sich neu gruppiert, um eine infame, unwürdige, erniedrigende und zutiefst undemokratische Politik umzusetzen, entsteht die Gefahr, damit den Neonazis der Goldenen Morgenröte das Terrain aufzubereiten. Dies ist eine sehr reale Gefahr. Insofern stehen alle linken Kräfte, die für ein NEIN beim Referendum geworben haben, vor der historischen Verantwortung, sich umgehend zusammen zu schließen, um auf den legitimen Wunsch nach Souveränität mit einer gesellschaftspolitischen Antwort zu reagieren. Wir müssen uns zunutze machen, dass die Linke unter der Bevölkerung noch die weitaus größte Zustimmung genießt. Und dass die „nationale Krise“, d. h. „eine Krise der ganzen Nation“, wie Lenin es formulierte, im Grunde eine soziale Krise ist, was die Forderung nach einer Regierung auf die Tagesordnung setzt, die wirklich mit der Memorandumspolitik Schluss macht. Dabei muss die wichtigste Lehre aus den letzten sechs Monaten gezogen werden, dass man nämlich den Neoliberalismus nicht überwinden kann, indem man Verhandlungen nach den Spielregeln der Euro-Zone führt.
Mangelnde internationale Solidarität
Ein Grexit unter linken Vorgaben muss unverzüglich vorbereitet und in Angriff genommen werden. Dabei geht es nicht darum, ein Europa der Nationalstaaten aufs Schild zu heben und die nationale „Souveränität“ zu beschwören, der Grund ist vielmehr, dass die Lohnabhängigen und die Jugend in Griechenland seit Jahren schon, und erst recht in den letzten sechs Monaten, mit ihrem kämpferischen Engagement allein gelassen wurden.
Mit dem Wahlsieg von Syriza im vergangenen Januar wurde durchaus eine Bresche in die bleierne Last geschlagen, die auf die Arbeiterbewegung in ganz Europa drückt und sie würgt. Aber die traditionellen Führungen der Linken und der Arbeiterbewegung haben rein gar nichts unternommen, um diese Bresche zu verbreitern – ganz im Gegenteil. Der EGB hat sich gar gegen das Referendum gestellt und faktisch zu einem JA aufgerufen. Die Sozialdemokraten in Nord- und Südeuropa haben sich die traditionellen Rollen: „Guter Bulle, böser Bulle“ aufgeteilt. Und die radikale Linke – ob in Partei oder Gewerkschaft – war nicht dazu in der Lage, daran etwas zu ändern. Diese Feststellung mag schmerzen, aber sie wird dadurch nicht weniger wahr.
Podemos als Rettungsanker?
Man kann einwerfen, dass Podemos als Hilfe gereichen kann und bei einem Wahlsieg die Karten neu gemischt werden. Natürlich sind wir alle für einen solchen Wahlsieg, so wie wir auch mit Syriza gebangt haben. Aber abgesehen davon, dass dies ungewiss ist, kann man genauso wenig davon ausgehen, dass sich das Szenario, das wir in Griechenland in den letzten sechs Monaten erlebt haben, nicht wiederholt.
Pablo Iglesias [der Vorsitzende von Podemos] hat erklärt, dass er die Annahme des dritten Memorandums durch Tsipras unterstütze, und hat damit gezeigt, dass seine politische Orientierung gelinde gesagt ein ernstes Problem darstellt. Die Kommunalpolitik in Madrid und Barcelona wird ein erster Prüfstein auf dem weiteren Weg von Podemos sein. Es gibt sicherlich einen linken Flügel in Podemos (wie auch in Syriza) und auch die weitere Entwicklung dieser Partei ist angesichts ihrer Entstehungsgeschichte offener als bei Syriza. Insofern stellt sich uns die taktische Frage, ob durch die Orientierung auf einen Grexit unter linken Vorzeichen (denn der Ausstieg aus dem Euro geht nicht im Handumdrehen) Podemos in Richtung eines Bruchs mit dem System gedrängt würde oder eher in Richtung einer „neo-reformistischen“ Anpassung.
Wir neigen zur ersten Variante. Denn, wenn der Grexit eindeutig als Bruch mit der Austeritätspolitik und als Aufstand gegen die Despotie angelegt wird, wird dies das Bewusstsein schärfen und zur Nachahmung animieren. Genauso wie mit der kurzen NEIN-Kampagne zum Referendum die Solidarität mit dem griechischen Volk in den anderen Ländern der EU signifikant zugenommen hat, weil das NEIN als ein Akt des offenen Widerspruchs zum herrschenden System begriffen wurde.
Ein Grexit unter internationalistischen Vorzeichen
Das bedeutet, dass ein Grexit unter linken Vorzeichen auch internationalistisch angelegt sein muss. Und zwar dergestalt, dass es als Botschaft der Lohnabhängigen und Jugend in Griechenland an ihre Brüder und Schwestern in ganz Europa begriffen wird, mit dem Inhalt: „Tut uns leid, aber wir haben keine andere Wahl. Wir hatten gehofft, Auslöser für einen gemeinsamen Kampf gegen dieses kapitalistische Europa zu werden. Aber wir begreifen Eure Probleme, die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Entwicklungsschritte und all die Hindernisse, die vor Euch liegen. Seid Euch trotzdem über unsere Ziele im Klaren: Wir wollen weiterhin gemeinsam mit Euch die EU stürzen, um gemeinsam ein anderes Europa aufzubauen. Insofern sind wir weiterhin mit Euren Kämpfen solidarisch und erwarten von Euch, dass Ihr Euch auch mit uns solidarisiert. Denn dies werden wir bitter brauchen können, da uns ein dorniger Weg bevorsteht.“
Kein Zuckerschlecken …
In der Tat wird der Grexit kein Zuckerschlecken werden, sondern immense Probleme aufwerfen, zumal am Anfang. Der einzige Weg, damit fertig zu werden, wird darin liegen, eine wirklich komplett andere Politik, nämlich eine ökosozialistische zu betreiben. Für die Wirtschaftspolitik gibt es schon eine Reihe konkreter Vorschläge dafür, die verschiedene linke Wirtschaftswissenschaftler in Syriza ausgearbeitet haben.
Aber der Kern der Angelegenheit ist politischer Natur: die Selbstorganisation und die Selbstverwaltung in den Wohnvierteln anzuregen; auf das Beispiel des „partizipativen Haushalts“ zurückzugreifen, das wir von Porto Alegre in dessen besseren Zeiten her kennen; Volkskomitees zur Kontrolle der Preise und ihre Offenlegung auf einer Website zu errichten; die sozialen Ungleichheiten zu mindern und gegen die Bürokratie zu kämpfen; die Emanzipation der Frauen zu fördern; die „illegalen“ EinwanderInnen zu integrieren; die Kleinbauern für sich zu gewinnen, indem Nahrungssouveränität statt Agrarindustrie in den Mittelpunkt gestellt wird (regionale Produktion, Zusammenarbeit zwischen Erzeugern und Verbrauchern); forcierter Umbau der Energieerzeugung auf erneuerbare und effiziente Quellen; die pharmazeutische Herstellung von Nachahmerpräparaten zu organisieren; eine andere Art von Tourismus zu entwickeln, … und mithilfe des Tourismus auf die öffentliche Meinung in Europa einzuwirken. Dies sind nur ein paar Beispiele. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein solches Programm zu entwerfen, sondern die GenossInnen in Griechenland werden sich damit befassen und wir werden gegebenenfalls von ihnen lernen.
Ein mühsamer, aber alternativloser Weg
Die Vorstellung, dass ein Land mit dem Euro brechen könnte, gilt oft als Tabu unter linken und internationalistischen EU-Gegnern, wie auch wir es sind. Nicht weil wir Illusionen in die EU hätten oder glaubten, die EU ändern oder ein soziales Europa im Rahmen der EU schaffen zu können. Sondern weil es unser Anliegen ist, die EU zu zerschlagen und durch ein anderes – demokratisches, soziales und offenes – Europa zu ersetzen, nämlich durch die Vereinigten sozialistischen Staaten Europas als einzigem Weg, eine plausible antikapitalistische Alternative realisieren zu können. Die tiefe und durch die EU noch vorangetriebene Spaltung zwischen den Ländern zwingt uns heute, im Falle Griechenlands mit diesem Tabu zu brechen und einen weniger geradlinigen Weg zu unserem Ziel einzuschlagen. Daraus folgt keineswegs, dass wir für einen Frexit, Brexit, Italexit oder was auch immer eintreten. Aber jetzt geht es darum, dem griechischen Volk einen Ausweg aus der Strangulation zu eröffnen, und da gibt es nun mal keinen anderen.
*Daniel Tanuro ist Leitungsmitglieder der LCR-SAP, belgische Sektion der IV. Internationale
Übers.: MiWe