Inwieweit beeinflusst die Flüchtlingskatastrophe den 2. Wahlkampf?

Von Niels Kadritzke, 21.6.2023 – BLOG GRIECHENLAND (Nachtrag)

In die „patriotische“ Agenda, mit denen Mitsotakis und die ND den Kleinparteien zu ihrer Rechten noch mehr Stimmen abjagen will, versuchen sie im zweiten Wahlkampf auch die Flüchtlingstragödie vom 14. Juni einzubauen. Dass die griechische Küstenwache mittlerweile in den Verdacht unterlassener Hilfeleistung geraten ist, braucht den kommenden Wahlsieger in keiner Weise zu stören. Mitsotakis fühlt sich in seiner harten Linie bestätigt, mit der er schon bei der ersten Wahl vom 21. Mai erfolgreich geworben hat.

„Gebt Kyriakos Stimmen mit seinen 40 Häusern, seinem Offshore-Vermögen, seiner Großfamilie und seiner Bande,
damit er unserere Menschlichkeit verbrenne, soweit er es bisher nicht geschafft hat, jedenfalls hat er sie kaputtgemacht.“ (@sofilakis)

Die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer, bei der in der Nacht zum 15. Juni mindestens 600 Menschen – Kinder, Frauen und Männer – mit ihrem seeuntüchtigen Boot in die Tiefe gerissen wurden, ist in ihrem genauen Ablauf noch nicht aufgeklärt. Das gilt auch für die Rolle der griechischen Küstenwache (HCG wie Hellenic Coast Guard), die nach internationalem Recht für die Rettung der Schiffbrüchigen zuständig war, weil sich der 30 Meter lange, mit etwa 750 Menschen überlastete Fischereitrawler mehr als 24 Stunden lang innerhalb der griechischen „Save and Rescue“-Zone befand. Die SAR-Zone gehört nicht zur Hoheitszone, aber der jeweilige Küstenstaat ist in diesem Seegebiet für die Seenotrettung zuständig. (…)

Schon jetzt ist absehbar, dass die Regierung das Unglück trotz der ungeklärten Fragen über die Rolle der HCG erfolgreich in ihrem Sinne instrumentalisieren kann. Sie schiebt die ausschließliche Verantwortung auf die Gruppe der ägyptischen Gang, die mit dem Trawler die Flüchtlingsroute Libyen-Italien bedient und von ihren „Passagieren“ für die Fahrt in den Tod pro Person zwischen 3000 und 6000 Dollar kassiert haben soll. Die griechischen Behörden haben unter den 104 geretteten Flüchtlingen (durchweg Männer) neun Ägypter verhaftet, die jetzt in Kalamata unter Anklage stehen.

Die nationale Pflicht zur Trauer wurde mit dem Ausrufen einer dreitägigen Staatstrauer abgeleistet. Aber das bleibt eine zynische Geste, wenn zugleich jede Stimme, die Fragen nach der „griechische Verantwortung“ stellt, als unpatriotisch oder gar als „nationaler Verrat“ denunziert wird. Und wenn Regierungschef Mitsotakis bei seinen letzten Wahlkampfauftritten unbeirrt verkündet, Griechenland werde an seiner „harten aber gerechten“ Flüchtlingspolitik festhalten. (…)

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Zweite Wahl nach neuen Regeln

Von Niels Kadritzke, 21.6.2023 – BLOG GRIECHENLAND

Dieser Text ist nicht nur eine erweiterte und detailliertere Fassung der Analyse, die nach den ersten Wahlen vom 21. Mai in der Juni-Ausgabe von Le Monde diplomatique erschienen ist. Er gibt auch einen Ausblick auf die zweite Wahl am 25. Juni, mit der die konservative Nea Dimokratia (ND) von Kyriakos Mitsotakis ihren ersten Wahlsieg in eine klare parlamentarische Mehrheit ummünzen will. Am Ende dieses Textes gehe ich kurz auf das tragische Schiffunglück ein, die sich zehn Tage vor der zweiten Wahl unweit der griechischen Südwestküste ereignet hat. Doch der Tod von mindestens 600 Menschen hat die ND nicht etwa zum Überdenken ihrer „harten aber gerechten“ Flüchtlingspolitik veranlasst. Stattdessen verspricht sie ihrer Wählerschaft die Fortsetzung ihrer „patriotischen“ Politik, deren oberstes Ziel nicht die Rettung, sondern die Abwehr von Flüchtenden ist.

Athener Wahllokal, 21.5.2023

In Griechenland tobt ein zweiter Wahlkampf. Die griechischen Bürgerinnen und Bürger haben der ND von Regierungschef Kyriakos Mitsotakis bei der Wahl vom 21. Mai zwar einen klaren Sieg, aber keine absolute Mehrheit in der Vouli, dem griechischen Parlament beschert. Deshalb lässt Mitsotakis sein Volk am 25. Juni zu einem zweiten Anlauf antreten. Bis zu diesem Zeitpunkt amtiert eine geschäftsführende Regierung unter dem Vorsitz des Obersten Richters Ioannis Sarmas, die von Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou berufen wurde.

Für die griechischen Parteien bedeutet dies einen weiteren Wahlfeldzug innerhalb weniger Wochen. Doch das Ergebnis vom 21. Mai hat die parteipolitische Konstallation auf eine Weise verändert, dass man von zwei getrennten Feldzügen reden muss. Den einen führt die ND, die im zweiten Anlauf eine möglichst sichere absolute Parlamentsmehrheit erringen will, im Idealfall 180 der 300 Sitze, die gewisse Verfassungsänderungen ermöglichen würde. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die konservative Regierungspartei nicht nur im Reservoir der „politischen Mitte“, sondern auch im Tümpel rechtsextremer Kleinparteien fischen.

Der andere Wahlkampf spielt sich in der linken Hälfte des politischen Spektrums ab, wo die sozialistische Syriza und ihr Vorsitzender Alexis Tsipras ihre seit 2012 etablierte Hegemonie gegen die sozialdemokratische Pasok zu verteidigen hat. Da beide Parteien selbst als Tandem null Chancen auf einer Mehrheit haben, sind sie vornehmlich darauf aus, sich gegenseitig Stimmen abzujagen. (…)

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Kanonen statt Schwimmwesten

646 Menschen könnten vor Pylos gestorben sein. In einer Woche will der Konservative Mitsotakis die absolute Mehrheit erreichen.

Von Ferry Batzioglou, 18.6.2023 – TAZ

Men transfer body bags carrying migrants who died after their boat capsized in the open sea off Greece, onboard a Hellenic Coast Guard vessel at the port of Kalamata, Greece, June 14, 2023. REUTERS/Stelios Misinas

ATHEN taz | Das verheerende Bootsunglück vor der griechischen Küste, vor Pylos, kommt für die Griechen zur Unzeit. Laut der griechischen Küstenwache werden schätzungsweise 568 Menschen vermisst. Das Gros der Flüchtlinge und Migranten – vor allem Frauen, Kinder und Alte – dürfte eingepfercht im Zwischendeck und Rumpf des etwa 30 Meter langen Fischkutters am vergangenen Mittwoch schnell auf dem Meeresgrund in einer Tiefe von an dieser Stelle mehr als 5.000 Metern gelandet sein. So könnten 646 Menschen bei dem verheerenden Bootsunglück gestorben sein.

Am kommenden Sonntag finden in Griechenland, das derzeit von einer Interimsregierung geführt wird, Parlamentswahlen statt. Der bis zum 25. Mai regierende Premier Kyriakos Mitsotakis, der nach dem Urnengang mit seiner konservativen Partei Nea Dimokratia (ND) weiter alleine in Athen regieren will, bezeichnete bei einer Wahlkampfrede in einer ND-Hochburg auf dem Peloponnes die Schlepper des gekenterten Fischkutters als „Dreckskerle“.

Unerwähnt blieb, dass die Regierung Mitsotakis auf eine demonstrativ restriktive Flüchtlings- und Migrationspolitik mit all ihren Facetten, mutmaßliche Pushbacks inklusive, und ihrem Augenmerk auf die See- und Festlandsgrenze zur Türkei im Osten des Landes setzt.

Mitsotakis und Co. sind sogar stolz auf ihre „strenge, aber gerechte“ Migrationspolitik, wie sie immer wieder hervorheben. Die meisten Griechen stimmen Mitsotakis’ Politik unverhohlen zu. Die Athener Opposition, namentlich linke Parteien wie Syriza oder Mera25, die das dubiose Vorgehen der Behörden in scharfer Form kritisiert, riskiert Beobachtern zufolge beim bevorstehenden Urnengang sogar Stimmenverluste.

Die zuständige Staatsanwaltschaft ist regierungsnah (…)

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Das ist kein Unglück, es ist Unrecht!

Eine Reise in die „europäische Lebensart“.
(Realnews 18.6.23)

“Dieser Schiffbruch bringt meinen Schmerz zurück“

Offener Brief von über 180 Menschenrechtsorganisationen und Initiativen zusammen mit Tima Kurdi, Tante von Alan Kurdi, nach dem Tod von bis zu 600 Menschen vor Pylos, Griechenland.

Heute, am Weltgeflüchtetentag, fordern wir gemeinsam eine vollständige und unabhängige Untersuchung der Ereignisse, klare Konsequenzen für die Verantwortlichen, ein Ende der systematischen Pushback-Praktiken an den europäischen Grenzen und Gerechtigkeit für die Opfer.

10 Jahre nach den beiden Schiffbrüchen vor Lampedusa, Italien, bei denen rund 600 Menschen ums Leben kamen und die einen riesigen öffentlichen Aufschrei auslösten, sind vor Pylos, Griechenland, bis zu 600 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Am 14. Juni 2023 tötete das europäische Grenzregime erneut Menschen, die von ihrem Recht auf Schutz Gebrauch machten. Wir sind erschüttert! Und wir stehen in Solidarität mit allen Überlebenden und mit den Familien und Freund:innen der Verstorbenen. Wir drücken unser tiefes Beileid und unsere Trauer aus. (…)

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Bootsunglück: Die Pushbacks der Küstenwache

Von Bamdad Esmaili , 17.2.2023 – WDR

Video

Es gibt Vorwürfe, dass das Boot mit Geflüchteten vor Griechenland wegen Push-Backs der griechischen Küstenwache gesunken ist. WDR-Journalist Bamdad Esmaili berichtet im Interview, was Überlebende des Unglücks erzählen.

Nach dem Bootsunglück vor Griechenland mit hunderten Toten gibt es schwere Vorwürfe gegen die griechische Küstenwache, das Unglück verursacht zu haben. Die Rede ist von so genannten Push-Backs. Darunter versteht man Maßnahmen, mit denen flüchtende Menschen daran gehindert werden, die Grenze zu übertreten und einen Asylantrag zu stellen. In der EU-Grundrechte-Charta wird das Recht auf Asyl gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention allerdings garantiert. 

Die Küstenwache weist den Vorwurf von Push-Backs zurück – jetzt soll die europäische Polizeibehörde Europol ermitteln. WDR-Journalist Bamdad Esmaili ist in Griechenland und hat mit seinem Team mit Überlebenden sprechen können. (…)

WDR: Es gibt Vorwürfe gegen die griechische Küstenwache. Worum geht es da?

Bamdad Esmaili: Es geht darum, dass es Vorwürfe gibt, dass die griechische Küstenwache dieses Boot in die Richtung von italienischem Gewässer gezogen hat – dass sie es sozusagen gepushbackt hat. Diesen Vorwurf hatten wir bislang nur gehört, gestern Abend gelang es meinem Kollegen, der arabisch spricht, dann mit ungefähr zehn überlebenden Geflüchteten zu sprechen. Sie haben unabhängig voneinander berichtet, dass dieses Boot tatsächlich gezogen wurde – nicht nur einmal, nicht nur zweimal, sondern insgesamt dreimal. Und dabei ist das Schiff dann ins Wanken gekommen und ist gesunken. (…)

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Auswärtiges Amt blockiert Millionenhilfe für zivile Seenotretter

14.6.2023 – Made in Bocholt

Berlin (dts Nachrichtenagentur) Das Auswärtige Amt hält die Auszahlung von Hilfen in Millionenhöhe für die zivile Seenotrettung zurück. Das berichtet der „Spiegel“. Laut einem Beschluss des Haushaltsausschusses vom November 2022 sollte der kirchennahe Verein „United 4 Rescue“ von 2023 bis 2026 jedes Jahr zwei Millionen Euro erhalten.

Er finanziert vor allem Schiffe, die im Mittelmeer Flüchtlinge retten, darunter die der deutschen NGOs „Sea Watch“, „SOS Humanity“ und „Sea Eye“. Doch die Bundesregierung hat das versprochene Geld bis heute nicht ausgezahlt. Das Auswärtige Amt habe gleich zu Beginn signalisiert, dass nur Projekte an Land unterstützt werden könnten, sagte Liza Pflaum, Vorstandsmitglied bei „United 4 Rescue“, dem „Spiegel“.

Die Anschaffung oder Wartung von Rettungsschiffen oder selbst Treibstoffkosten für Diesel habe die Regierung nicht fördern wollen. „Wir haben die politische Vorgabe, keine Schiffe zu finanzieren“, soll die Botschaft nach Pflaums Aussage gewesen sein. Ein internes Protokoll des Vereins stützt laut „Spiegel“ diese Angabe.

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»Die Überlebenden fragen ständig nach den Vermissten«

Ein völlig überfülltes Fischerboot ist vor der griechischen Küste gesunken, Hunderte Geflüchtete sind wohl umgekommen. Die Angaben zu Ursache und Hergang des Unglücks widersprechen sich. Der Überblick.

15.6.2023 – SPIEGEL

Was ist passiert?

Bei einem schweren Bootsunglück im Mittelmeer sind vermutlich Hunderte Menschen ums Leben gekommen, als ein heillos überfülltes Fischerboot am Mittwochmorgen vor der südwestlichen Küste Griechenlands kenterte und unterging. Bis zum Morgen wurden nur 104 Menschen gerettet. »Wir sind Zeugen einer der größten Tragödien im Mittelmeer«, sagte Gianluca Rocco, Leiter der griechischen Abteilung der Internationalen Organisation für Migration (IOM).

14.06.2023, Griechenland, Kalamata: Flüchtlinge erhalten erste Hilfe bei ihrer Ankunft im Hafen nach einer Rettungsaktion. Es ist eines der schwersten Bootsunglücke in Griechenland seit Jahren. Einsatzkräfte bargen Dutzende tote Migranten aus dem Wasser. Foto: argolikeseidhseis / dpa

Wie viele Menschen waren an Bord?

Die tatsächliche Zahl der Todesopfer geben die griechischen Behörden inzwischen mit mehr als 500 an, verweisen aber auch darauf, dass es wohl nie Gewissheit geben wird. Nach Aussagen von Geretteten könnten mehr als 700 Menschen aus Syrien, Pakistan, Afghanistan und Ägypten an Bord des Kutters gewesen sein. Bilder der Küstenwache zeigen das völlig überfüllte Boot Stunden, bevor es sank. Darauf ist zu sehen, dass sich allein an Deck des Bootes bis zu 200 Menschen drängten. Die meisten trugen keine Rettungswesten. Auszumachen sind zudem ein Zwischendeck und der Rumpf. Dort sollen sich die übrigen Passagiere, darunter nach Angaben der Überlebenden schwangere Frauen und viele Kinder, aufgehalten und beim schnellen Sinken des Bootes keine Chance gehabt haben, sich nach draußen zu retten. (…)

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