Die neue griechische Arbeitsmigration

Vortrag gehalten am 4. Dezember 2015, in Düsseldorf Tagung „Faire Mobilität“

von Sigrid Skarpelis-Sperk

Die Diskussion über Griechenland findet nicht im luftleeren historischen Raum statt, sondern inmitten der größten Finanzkatastrophe in der Geschichte der letzten hundert Jahre, die immer noch nicht ausgestanden ist.

Sie ist teurer und größer als die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, die die Welt in eine historisch unerhörte Massenarbeitslosigkeit, Staatsbankrotte, den Zusammenbruch ganzer Industriezweige, Massenauswanderung und schließlich zum Zerfall von Demokratien und zum Aufkommen von Nationalsozialismus und Faschismus führte.

Für Griechenland führte diese Weltfinanzkrise zusammen mit der von der EU- Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfond Griechenland aufoktroyierten Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu einem tiefen ökonomischen und sozialen Einbruch, schlimmer als in jedem anderen Land der EU aber auch weltweit.

  • Die Staatsverschuldung stieg sprunghaft von 115,1% in 2009 auf 175% im Jahr 2012
  • Das Bruttosozialprodukt (BSP) nahm im selben Zeitraum um mehr als 25 % ab
  • Die Arbeitslosigkeit stieg 2015 auf 24,6%. (Eurostat, August) Und in der Jugendarbeitslosigkeit hält Griechenland noch vor Spanien den traurigen europäischen Rekord von 47,9% (Eurostat, August)
  • Bei den NEET (Not in Education, Employment or Training) teilen sich Griechenland und Bulgarien den Spitzenplatz
  • Deutliche Lohnkürzungen, Absenken des Mindestlohnes und eine systematische Einschränkung der Arbeitnehmerrechte und der Tarifautonomie
  • Der Anteil der Langzeitarbeitslosen stieg von 2008 bis 2014 auf 73% – der höchste in der EU; 60 % davon sind Frauen. Die meisten betroffenen Arbeitnehmer finden sich nunmehr in Haushalten wieder, in denen alle arbeitslos sind
  • Der Anteil der Arbeitslosen, die eine Form der Unterstützung erhalten liegt bei unter 19%.

Kein Wunder, dass zwei von drei jungen Menschen in Griechenland Angst um ihre Zu- kunft haben. (Kappa Research 2011)

Politisch bedeutet das – darauf hat schon Hanna Arendt in den 30er Jahren hingewiesen – ein Auseinanderdriften der Gesellschaft: Implosion oder Explosion.

Letztere ist derzeit auf den Straßen von Athen und in fast ganz Griechenland zu sehen: Massendemonstrationen, Straßenblockaden und Streiks, aber auch ein deutliches Erstarken von extremen politischen Kräften – besonders erschreckend die Zunahme von faschistischen Kräften in und außerhalb der Politik. Die faschistische Chryssi Avgi ist die drittstärkste Partei im Parlament.

Dabei übersehen wir leicht, dass die Implosion (also das sich Aufgeben) sozial wie wirtschaftlich für die Menschen – das Humankapital, also den wesentlichsten Teil der Kapitalbildung eines Landes und seiner Wirtschaft – noch gravierender ist als jeder zeitlich begrenzte ökonomische Rückschlag. Sie führt – das kann man an der griechischen Geschichte leicht sehen, entweder zu einem verbreiteten Rückzug aus Wirtschaft und Gesellschaft und/oder zu einer massiven Emigration.

Emigration ist dabei in der mehr als 2000-jährigen griechischen Geschichte nichts Neues: Das Mittelmeer war für die Griechen des Altertums immer – wie Sokrates bemerkte – der Teich, in dem sie als Frösche schwammen; auch das Schwarze Meer gehörte dazu: Städtenamen wie Alexandria, Neapel, Marseille, Tripolis, Odessa und Mariupol künden davon. Und die alten Siedlungsgebiete in Kleinasien und Konstantinopel ohnehin. Aber auch die Herkunft vieler großer Geister und Schriftsteller, ja Nobelpreisträger. In all diesen Jahrhunderten zeigt sich auch eine wirtschaftliche Spezialisierung der Griechen im osmanischen Reich und danach: Nutzung seiner Verbindungen zu seinen „Nachbarn“ Russland und dem Kaukasus, dem Mittelmeer und weltweit mit dem Aufbau seiner Handelsflotte, transkontinentalem Handel und Logistik sowie Wissenschaft, Wissensdienstleistungen und Kunst:

  • die griechische Handelsflotte ist heute die größte Handelsflotte der Welt – auch wenn sie so nicht in der Statistik Griechenlands auftaucht. Sie war und ist die „Missing Fleet“ – auch weil die griechischen Reeder zum allergrößten Teil gar nicht die griechische Staatsbürgerschaft besitzen. Aber unter welcher Flagge Schiffe fahren und in welchem Land sie Steuern zahlen, zählt wie die Besteuerung der multinationalen Konzerne zu den ungelösten, aber drängenden Problemen der internationalen Handels- und Investitionspolitik
  • und sein Beitrag in der Wissenschaft. Die Griechen machen weniger als 0,2 % der Weltbevölkerung aus und stellen über 3% der Topforscher weltweit, 336 von 10.000. 85% davon waren „Exporte“ Griechenlands in die USA und die EU. (A.Kritikos, DIW, WB39/2014). Und das obwohl Griechenland nur 0,67% seines BSP in Forschung und Entwicklung investiert.

Das ist ein „Brain Drain“ wie ihn kaum ein anderes Land in der Welt erlebt – natürlich mit negativen Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft

Die Geschichte der letzten hundert Jahre zeigte und zeigt allerdings eine neue Form und ein neues Ausmaß von Migration, mit der Griechen konfron- tiert waren und sind:

Die Vertreibung der Griechen aus Kleinasien und dem Schwarzen Meer war die größte und härteste Migration, welche Griechenland ökonomisch und sozial nur teilweise meistern konnte. Es folgte die Flucht vieler Griechen während der Besetzung Griechenlands im 2. Weltkrieg durch Nazi-Deutschland, Mussolinis Truppen und die bulgarische Armee; unmittelbar danach der griechische Bürgerkrieg mit der Flucht der Unterlegenen in die Länder der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Es gibt wohl wenig Völker, die von sich sagen können/müssen, dass knapp die Hälfte nicht im eigenen Land leben. In Griechenland ist das der Fall.

10 Millionen Griechen leben in Griechenland – 8 Millionen außerhalb, über die ganze Welt verstreut mit Schwerpunkten in den USA, Kanada, Australien, Südafrika, Lateinamerika und ja – in Deutschland.

Die Migration der Griechen nach Deutschland selbst war vor dem ersten Weltkrieg eher gering; von etwas größeren griechischen Gemeinden in Leipzig, München und den Hafenstädten einmal abgesehen.

Aber gerademal 15 Jahre nach den schrecklichen Ereignissen des 2. Weltkriegs und der deutschen Besatzungszeit, knapp 10 Jahre nach dem grausamen Bürgerkrieg wird Griechenland erneut von einer riesigen Auswanderungswelle getroffen.

  • Zwischen 1960 – 1974 verlor Griechenland von seinen damals 9 Millionen Einwohnern 2 Millionen Menschen durch Auswanderung, d.h. 22 % seiner Bevölkerung. Die Hälfte davon, etwa 1 Million, ging nach Deutschland. Die überwiegende Zahl der Auswanderer (rund 85 %) kamen aus Kleinstädten und Dörfern – meist aus dem Norden Griechenlands und dem Epirus.

Als Ende der 60er Jahre – ausgerechnet im Ursprungsland der Demokratie – eine Militärjunta an die Macht kam, fanden viele Griechinnen und Griechen in Deutschland Zuflucht vor Folter und Gefängnis. Unterstützung gab es von vielen Seiten, nicht nur von Willy Brandt, Intellektuellen und Journalisten, sondern natürlich auch von Gewerkschaftern und der Studentenbewegung. Deutschland und seine Gesellschaft ermöglichte in dieser Zeit sehr vielen Griechinnen und Griechen Lohn und Arbeit, soziale Sicherheit und Freiheit.

Die Arbeitsplätze, die die Zuwanderer damals einnahmen, waren in aller Regel sozialversichert, ihre Arbeitsverträge durch Tarifverträge abgesichert. Ja, Bürokratie gab es auch, aber keine Fakelakia (eine in Griechenland geläufige Bezeichnung für eine bestimmte Form der Korruption) und Behördenwillkür. In den Betrieben sorgten die Gewerkschaften für Schutz und Vertretung. Der Organisationsgrad war deswegen auch erfreulich hoch. Allerdings – das sei nicht verschwiegen – besetzten sie zum größten Teil niedrigqualifizierte Arbeitsplätze. In Industrie und Dienstleistungen, Bereichen denen junge Deutsche lieber auswichen, bildeten die Griechen zusammen mit den zugewanderten Italienern, Jugoslawen und Spaniern die „soziale Unterschicht“.

Nach dem Ende der Diktatur und dem von der Europäischen Gemeinschaft gestützten wirtschaftlichen Aufschwung wanderten etwa zwei Drittel der Griechinnen und Griechen wieder zurück – mit dem Ersparten und den Rentenansprüchen in den Taschen.

Wer bei uns in Deutschland blieb, waren ohne Zweifel die Erfolgreichen. Die Griechen waren und sind die „unauffällige Minderheit“ mit der geringsten Kriminalität, guten schulischen Leistungen und großer Integrationsbereitschaft. Aus ihren Reihen kommen eine erstaunliche Zahl von erfolgreichen und hochangesehenen Akademikern, Ärzten, Juristen, Historikern, Künstlern, Ingenieuren, Managern und führenden Gewerkschaftern – wie Michael Vassiliadis.

Aber sie haben auch ein starkes Bestreben, die eigenen kulturellen Werte zu erhalten: Religion, Kultur, menschliche Beziehungen und die Erhaltung von Werten – insbesondere die Solidarität in den Großfamilien wird noch immer hochgehalten. Das kann man auch an der Spendenbereitschaft nicht nur für die Ärmsten in Griechenland, sondern auch nun die Flüchtlinge deutlich sehen.

Was die neue griechische Arbeitsmigration angeht – da sind wir noch am Anfang oder schon deutlich mittendrin.

Nimmt man den Mikrozensus des Jahres 2011 des Statistischen Bundesamtes als Grundlage, dann lebten 2011 392.000 Personen mit griechischem Migrationshintergrund in Deutschland.

Im Juni 2015 waren 123.582 Griechen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Dabei ist der Zuwachs mit 6.841 Personen (5,9 %) deutlich geringer als der der Rumänen oder Bulgaren. Diese Zahlen spiegeln jedoch nicht das wieder, was die deutsch- griechischen Gemeinden, die griechischen Gemeinden, die orthodoxen Kirchen und viele Schulen in den Zentren der griechischen Migration erleben und was uns die griechischen Zahlen und Studien über Emigration berichten.

  • Zwischen 2010 und 2012 sind 410.000 Griechen ausgewandert (Eurostat); Tendenz steigend
  • Allein 2011 sind 23.800 Griechen nach Deutschland ausgewandert, das entsprach einer Steigerung von 90 % gegenüber 2010 (Papachristou und Elgood 2012)
  • Umfragen zufolge ziehen zwei von drei jungen Akademikern in Erwägung, Griechenland zu verlassen. In den letzten Jahren sind allein aus Athen 6.000 junge Ärzte ausgewandert – die Mehrheit nach Deutschland oder England

Dies entspricht bereits in zwei Jahren in etwa der Hälfte der Massenemigration der 60er und 70er Jahre.
Diese Unterschiede sind keine Schlamperei, sondern ein systematisches Problem in den nationalen und europäischen Statistiken.

Wir zählen – sei es im Mikrozensus oder bei der BA – nur die gemeldeten und sozial- versicherten Arbeitnehmer oder Selbstständigen.

Griechenland – wie jedes Land der EU – zählt nur die Auswanderer.

Wer aber bei Verwandten und Bekannten in Deutschland wohnt und sich nach einem Job umsieht, der geht – nach den Erfahrungen mit der griechischen Arbeitsvermittlungs- realität nicht zur BA. er ist meist auch nicht örtlich gemeldet. Damit existiert er amtlich nicht!

Wir haben also im deutsch-europäischen Verhältnis, denn das dürfte auch für die Jugend Südeuropas gelten, nicht nur eine Missing Fleet, sondern auch eine Missing Generation, eine „Verborgene Jugend“, die wir nicht ignorieren dürfen.

Für Griechenland ist das ein herber Verlust:

Zum einen hat Griechenland wie Deutschland ein demografisches Problem – und kann es nicht wie Deutschland durch Zuwanderung lösen Zum anderen:

  • Diese junge Generation ist die am besten ausgebildete und am besten qualifizierte Generation in Griechenland. Besser, als im europäischen Schnitt oder der meisten Industrienationen.
  • Schätzungen zufolge sind seit 2011 über 100.000 Akademiker ins Ausland ausge- wandert.
  • Sie sind zu einem nicht geringen Teil keine schlecht qualifizierten BLUE COLLAR Workers, sondern Ärzte, Ingenieure, IT-Experten, Wirtschafts- und Naturwissen- schaftler und exzellente Juristen, Erziehungs- und Pflegepersonal
  • Der Anteil der Auswanderer mit Hochschulabschluss erreicht 89 %. 48 % sind unter 30 Jahre, weitere 49 % sind zwischen 31 bis 49 Jahre alt
  • Schon jetzt hat Griechenland 85 % seiner Spitzenwissenschaftler in die USA, die EU und Kanada verloren
  • Das war und ist ein sehr hoher Export von kostbarem Humankapital ohne dass Griechenland dafür einen Ersatz bekommen würde oder auch nur ein Entgegenkommen auf anderen Gebieten.

Für uns alle stellen sich die Fragen und heute suchen wir mit ihnen nach Antworten:

Gehen wir mit diesen jungen Menschen angemessen um und ermöglichen ihnen gute Arbeit, gute Einkommen und eine angemessene Weiterbildung? Dann kann wie in den 60er und 70er Jahren eine so qualifizierte und mit neuen Erfahrungen versehene junge Generation auch bei einer denkbaren Rückkehr nach Griechenland dort den Wiederaufbau der Wirtschaft und einen systematischen und dringend nötigen Neuaufbau der Institutionen leisten – wie nach der Diktatur.

Oder

Behandeln wir sie nicht – trotz ihrer hohen Qualifikation – gleichberechtig und sozial angemessen?
Dann werden sich die Arbeits- und Sozialbedingungen in Deutschland weiter prekarisieren und die wichtigen Schritte wie z.B. die Einführung des Mindestlohnes und der Verbesserung der Arbeitsverträge unterlaufen.
Und dann werden ohne Zweifel die stark angespannten deutsch-griechischen Beziehungen noch mehr leiden und die qualifizierten Griechinnen und Griechen weiterwandern.

Wir haben es in der Hand, das zu ändern: Deutsche wie Griechen!

zum download als PDF: Broschüre des DGB „Wissen ist Schutz!“ (griechische Fassung)
zum download als PDF: Broschüre des DGB „Wissen ist Schutz!“ (deutsche Fassung)
zum download als PDF: Die neue griechische Arbeitsmigration, von Sigrid Skarplis-Sperk

 

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