Blutspur durch Hellas
Brutal herrschten die deutschen Besatzer in Griechenland – auf eine angemessene Entschädigung wartet das Land bis heute
Das deutsche Lamento war groß, als Mitte vergangenen Jahres die Gerichtsvollzieherin Konstantina Papaspyrou, von Polizisten begleitet, das Goethe-Institut in Athen betrat, um die Pfändung des Gebäudes vorzubereiten.
Und dieser Auftritt sollte nur der Anfang sein. Denn noch zwei weitere deutsche Liegenschaften stehen, theoretisch, zur Pfändung an: das Deutsche Archäologische Institut und die Deutsche Schule in Griechenlands Hauptstadt.
Es ging und geht um einen Rechtstitel, den der Anwalt und ehemalige Präfekt des Regierungsbezirks Böotien, Joannis Stamoulis, im Auftrag von mehr als 200 Bürgern der Kleinstadt Distomon erstritten hat und der vom obersten griechischen Gerichtshof, dem Areopag, bestätigt worden ist. Die Summe beläuft sich auf insgesamt 58 Millionen Mark, als Entschädigung für ein von Deutschen im Jahr 1944 begangenes Kriegsverbrechen. Doch die Bundesrepublik weigert sich beharrlich zu zahlen und beruft sich dabei, unter anderem, auf das umstrittene Prinzip der so genannten Staatenimmunität, demzufolge Privatklagen gegen einen Staat vor Gerichten anderer Staaten unzulässig sind.
Und dies ist das Verbrechen, um das es geht: Am 10. Juni 1944 war eine Einheit der Waffen-SS, die 2. Kompanie des SS-Polizeigrenadierregiments 7, nach einem verlustreichen Gefecht mit griechischen Widerstandskämpfern, in den kleinen Ort Distomon bei Delphi einmarschiert und hatte über 200 Einwohner, vom 80-jährigen Greis bis zum neugeborenen Säugling, in einem wahren Blutrausch niedergemetzelt. An ebendiesem 10. Juni 1944 hatte eine andere SS-Einheit im französischen Oradour-sur-Glane eine ähnliche Mordtat begangen
642 Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, wurden erschossen oder lebendig verbrannt. Doch während das Massaker von Oradour weltweit in die Geschichtsbücher einging, als ein Gipfelpunkt deutscher Kriegsverbrechen in Westeuropa, waren solche Taten in Griechenland zu diesem Zeitpunkt längst blutige Routine, das Verbrechen von Distomon eines von Hunderten dieser Art.
Nur in wenigen Fällen übrigens war die Waffen-SS der Täter, fast immer handelte die Wehrmacht selbst, wobei sich die 117. Jägerdivision unter Generalmajor Karl von Le Suire und das III. Bataillon des Gebirgsjägerregiments 98 unter Führung von Major Reinhold Klebe (später in der Bundeswehr aktiv) besonders hervortaten. Sie waren die Hauptverantwortlichen für die Massaker von Kalavryta und Kommeno.
Dabei hatte Hitler nach dem deutschen Überfall auf Griechenland zunächst eine wohlwollende Behandlung des Landes befohlen. Die Wehrmacht war im April 1941 einmarschiert, nachdem die Griechen eine im Oktober 1940 – gegen den Willen Hitlers – begonnene italienische Invasion erfolgreich zurückgeschlagen hatten. Dies nötigte dem Diktator durchaus Achtung ab, und auch weil der „Führer“ ein schwärmerischer Verehrer der Antike war, begegnete er dem besiegten Land zunächst mit Sympathie. Doch als das griechische Volk seine Liebe nicht erwiderte, sondern Widerstand leistete, schlug die Stimmung in Berlin rasch um. Der „Philhellene“ Hitler machte sich nun die Rassentheorien des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg zu eigen, wonach in den Adern der neuen Griechen „kein Tropfen edlen hellenischen Blutes“ mehr flösse. Der Weg war frei, auch die Griechen als balkanesische „Untermenschen“ zu behandeln.
Es begann mit massiven Repressalien nach dem „Unternehmen Merkur“, der Einnahme der Insel Kreta aus der Luft. Hier beantwortete die Wehrmacht den heftigen Widerstand der Kreter sofort mit der Auslöschung ganzer Dörfer.
General der Flieger Kurt Student hatte bereits am 31. Mai 1941 einen Befehl über „Vergeltungsmaßnahmen“ erlassen, die „unter Beiseitelassung aller Formalien“ durchgeführt werden durften. Das Dorf Kandanos fiel schon im Mai 1941 einer solchen „Maßnahme“ zum Opfer und wurde zu einem ersten Symbol des griechischen Widerstandes. Mindestens 2000 Zivilisten brachten die Deutschen bereits in den ersten Wochen nach der Einnahme von Kreta um, bis Kriegsende stieg die Zahl, nach griechischer Schätzung, auf fast 10 000 Menschen.
Auch auf dem Festland brutalisierte sich die Herrschaft der Besatzer zusehends. Von Mazedonien bis zum Peloponnes, in jeder griechischen Provinz hinterließen die deutschen (in kleinerem Ausmaß auch die italienischen) Besatzungstruppen ihre blutige Spur. Die Täter durften sich bei ihren sadistischen Rachefeldzügen gegen die Zivilbevölkerung durch einen „Führerbefehl“ zum Kampf gegen den Widerstand in Ost- und Südosteuropa gedeckt fühlen. In jenem Befehl vom 16. Dezember 1942 war angeordnet, den Kampf gegen die Partisanen mit „den allerbrutalsten Mitteln“ zu führen, die Truppe sei „berechtigt und verpflichtet, in diesem Kampf auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt“.
Die Truppe hielt sich daran – nur zum Erfolg führte die Methode nicht, im Gegenteil: Sie ließ vor allem die kommunistisch geführte Widerstandsorganisation EAM zu einer Massenbewegung anschwellen. Das erkannten auch Besatzungsgeneräle wie Hellmuth Felmy, spätestens nach dem Massaker von Kalavryta auf dem Peloponnes am 13. Dezember 1943, bei dem mindestens 800 Menschen ermordet wurden. Aber unterbunden hat auch er das Morden nicht, bei dem sich die Täter in jedem Fall der Straffreiheit sicher sein durften. Denn Hitlers Befehl hatte diesen Satz enthalten: „Kein in der Bandenbekämpfung eingesetzter Deutscher darf wegen seines Verhaltens im Kampf gegen die Banden und ihre Mitläufer disziplinarisch oder kriegsgerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden.“
Kein einziger Täter wurde je von der deutschen Justiz verurteilt
Fast immer folgte dem Morden die Plünderung. Alles wurde mitgenommen, von den Viehherden und den Olivenölvorräten bis hin zur letzten Hochzeitstruhe.
Anschließend steckte man die Häuser in Brand. Die „Maßnahme“ beendete ganz ordentlich ein „Gefechtsbericht“, der die ermordeten Zivilisten, massakrierte Säuglinge eingeschlossen, als „Bandenmitglieder“ auswies, die man „im Verlauf von Kampfhandlungen“ getötet hätte. Warum diese Manipulation, wenn die Täter sich doch selbst beim größten Exzess noch durch den „Führerbefehl“ gedeckt wussten? Es mochten wohl die vorgesetzten Offiziere schon frühzeitig an den „Endsieg“ nicht mehr geglaubt haben …
Zu den Massakern kamen die regelmäßigen Geiselhinrichtungen in Athen, auf dem Schießplatz von Kässariani, für die im Konzentrationslager von Haidari Tausende von Geiseln „vorrätig“ gehalten wurden. Insgesamt sollen, von Mazedonien bis Kreta, 130 000 Zivilisten von den Besatzern umgebracht worden sein, darunter über 50 000 Juden. Fast vollständig vernichtet wurde die jüdische Gemeinde von Thessaloniki, mit ihren vielen, zum Teil uralten Synagogen einst eine der bedeutendsten Europas. Auch in Griechenland half die Wehrmacht bei der“Endlösung“ willig mit.
Was die materiellen Schäden anging, machte das Land nach dem Abzug der deutschen Besatzer im Oktober 1944 (Kreta und Rhodos wurden erst 1945 geräumt) unter anderem diese Rechnung auf: 400 000 zerstörte Wohnungen, Dreiviertel der Infrastruktur und die Hälfte der Industriebetriebe zerstört.
Einen Anspruch Griechenlands auf Reparationen in Höhe von über sieben Milliarden Dollar errechnete 1947 eine Konferenz der Siegermächte in Paris.
Und dann war da noch eine Zwangsanleihe in Höhe von 500 Millionen Reichsmark, die eine griechische Kollaborationsregierung den NS-Besatzern gewährt hatte – deren Rückzahlung allerdings deutscherseits schriftlich zugesagt worden war, ein Versprechen, das bis heute uneingelöst blieb, von Reparationsleistungen ganz zu schweigen.
Wie eine Zahlung zu vermeiden sei, hatte ein deutscher Botschafter in Athen einmal so umschrieben: Man müsse die griechische Seite nur „ad calendas graecas vertrösten“, mit dem Ziel, „die Forderungen unserer einstigen Gegner durch Zeitablauf einer Verwirkung oder Verjährung zuzuführen“. Etwas ad calendas graecas zu vertagen, das hieß bei den Römern bekanntlich soviel wie „aufschieben bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag“. Und so mochte es wohl jener klassisch gebildete deutsche Diplomat als überaus geistreichen Witz empfunden haben, als er das geflügelte Wort ausgerechnet in diesem ziemlich delikaten Zusammenhang der deutsch-griechischen Nachkriegsbeziehungen zur Anwendung brachte.
Die meisten Griechen fanden und finden das aber ganz und gar nicht lustig.
Ebenso wenig können sie sich bis heute mit der unerträglichen Arroganz abfinden, in der die deutsche Seite die Besatzungsverbrechen jahrelang ignorierte. Die Justiz der Bundesrepublik hat sich nicht nur damit begnügt, alle Kriegsverbrecher vor Strafe zu schützen, die zwischen 1941 und 1945 in Griechenland gewütet haben, sie ging sogar so weit, die Untaten noch im Nachhinein für rechtens zu erklären, ja für erforderlich. „In dieser Situation waren Repressalien notwendig und auch zulässige völkerrechtsmäßige Mittel, die Gegner, die Partisanen, zur Einhaltung der Völkerrechts zu zwingen“, formulierte 1974 ein Bochumer Staatsanwalt zur Exkulpation eines der Täter von Kalavryta – wohl wissend, dass die deutsche Militärführung ihrerseits beim Krieg auf dem Balkan „an die Haager Landkriegsordnung keinen Gedanken mehr verschwendet“ hat, wie es General Hermann Foertsch, von August 1943 bis März 1944 Generalstabschef der Heeresgruppe F, einmal bekannte. Und während die Bundesrepublik sich mit den Namen der Offiziere vom 20. Juli zu schmücken begann, den „Vertretern eines besseren Deutschland“, diffamierte die (west)deutsche Justiz die Widerstandskämpfer in den besetzten Ländern als „Bandenmitglieder“ und als „Seuche“. Das war der deutsche Dank für den Beitrag auch der griechischen Widerstandsbewegung zur Niederringung der Hitler-Diktatur.
Bis heute nutzen auch deutsche Diplomaten manche Gelegenheit, die Griechen zu brüskieren. Als zum Beispiel die Bürger von Distomon 1998 den Botschafter in Athen zu einem international besetzten Friedenssymposium ins Kongresszentrum von Delphi einluden, schlug der die ausgestreckte Versöhnungshand aus. Er ließ sich nicht blicken, nicht einmal ein Grußwort kam. Stattdessen erschienen, inkognito, aber bald enttarnt, zwei Schreibkräfte, die für die Akten des Auswärtigen Amts festhalten sollten, was denn auf dem Kongress möglicherweise an deutschfeindlichen Äußerungen fiel. Vor diesem Hintergrund wiegen auch die einsamen Gesten deutscher Bundespräsidenten nicht viel, die an den Gedenkstätten für die Opfer des deutschen Terrors Kränze niederlegten: zuletzt im April vergangenen Jahres Johannes Rau, der als erstes deutsches Staatsoberhaupt – 57 Jahre nach dem Massaker! – Kalavryta besuchte.
Was die Zahlungsverpflichtungen angeht, so schien die deutsche Rechnung zunächst aufzugehen. Dass sowohl die staatlichen als auch die individuellen Wiedergutmachungsansprüche der Griechen bis heute unerfüllt geblieben sind, dafür hat maßgeblich das von dem Bankier und Adenauer-Intimus Hermann Josef Abs mitausgehandelte Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 gesorgt.
Die Rückzahlung von Verbindlichkeiten, die aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs herrühren, so wurde dort mit den Alliierten vereinbart, sollte bis zum Abschluss eines Friedensvertrags zurückgestellt werden. Diesem Abkommen hat auch Griechenland damals zugestimmt.
Doch anders als nachsichtige Säumigkeit des Gläubigers bewirkt ja eine bedingte Stundung keinesfalls eine automatische Verjährung der Schuld, sie steht ihr, im Gegenteil, geradezu im Wege. Und so wird jetzt, nach dem Abschluss des – einem Friedensvertrag adäquaten – Zwei-plus-Vier-Vertrags der alliierten Mächte mit Deutschland im September 1990, Abs‘ einstiger Coup der deutschen Seite zum Verhängnis. Berlin versucht jedenfalls alles, um sich aus der Affäre zu ziehen und den fatalen Präzedenzfall einer späten Wiedergutmachungsleistung zu vermeiden. So wird immer wieder auf ein Globalabkommen vom 18. März 1960 verwiesen, nach dem der griechischen Regierung die (lächerliche) Summe von 115 Millionen Mark zur Verteilung an griechische NS-Verfolgte zur Verfügung gestellt wurde.
Jetzt muss der Bundesgerichtshof über die Klage entscheiden
Dieses Abkommen aber, so hat die deutsche Botschaft in Athen in einem Schriftsatz vom 5. Juli 1988 noch einmal ausdrücklich festgehalten, „umfasst keine allgemeinen Kriegsschäden, sondern lediglich die Wiedergutmachung für nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen aufgrund von Rasse, Religion oder Weltanschauung“. Das heißt im Klartext: Es war ausschließlich als Entschädigung für ehemalige KZ-Häftlinge bestimmt, die das Grauen der Lager überlebt hatten. Heute behauptet das Auswärtige Amt wider besseres Wissen, mit dem Abkommen von 1960 seien die Ansprüche der Opfer der Kriegsverbrechen abgegolten. Dann wieder werden die Nettozahlungen der Europäischen Union an Griechenland ins Feld geführt, die unter anderem natürlich auch aus der deutschen Kasse stammen. Und gern erinnert man schließlich an private Initiativen, die sich um Aussöhnung und Wiedergutmachung bemüht haben.
Doch ändert das für Berlin nichts. Um einen Kompromiss, ähnlich wie im Fall der späten Entschädigung für die ehemaligen Zwangsarbeiter, wird die deutsche Seite am Ende kaum herumkommen, will sie nicht eine Flut weiterer Klagen provozieren. Auch wenn die griechische Regierung alles tut, um das Problem vom Tisch zu bekommen, und der Areopag seine Entscheidung vom Vorjahr möglicherweise revidieren wird: Es sind nicht nur griechische Gerichte mit Individualklagen von Besatzungsopfern befasst.
Beim Bundesgerichtshof ist seit Sommer des vergangenen Jahres eine Klage von Arghyris Sfountouris aus Distomon anhängig, der für sich und die anderen Überlebenden seiner Familie eine Entschädigung erstreiten will – eine symbolische Entschädigung, denn ihm geht es vor allem um moralische Genugtuung. Das Landgericht Bonn und das Oberlandesgericht Köln haben sein Begehr zwar abgewiesen, einen Gang zum Bundesgerichtshof aber trotz des geringen Streitwerts zugelassen. Und dort liegt er nun, der Schwarze Peter, obwohl die Bundesrichter leicht die Möglichkeit hätten, über Deutschlands historische Schuld im Sinne der deutschen Staatsräson zu entscheiden.
Doch beim Bundesgerichtshof weiß man auch, dass nach dem eigenen Spruch dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (an den sich mittlerweile auch der Anwalt Stamoulis gewandt hat) das letzte Wort zufiele, und der Kollegen dort sind sich die Bundesrichter ganz und gar nicht sicher.
Setzen auch sie jetzt lieber auf die „griechischen Kalenden“ der alten Römer – den Zahltag, der nie kommt?
Die neuen Römer waren da besser beraten, als sie solche Ausflüchte gar nicht erst suchten. Die Republik Italien hat, als Rechtsnachfolgerin des Mussolini-Staats, die griechischen Wiedergutmachungsforderungen längst pauschal beglichen und auch den italienischen Anteil an der Besatzungs-Zwangsanleihe gleich nach Kriegsende in aller Stille zurückgezahlt. Gegen sie klagt heute niemand mehr – und kein Gerichtsvollzieher ist ihr auf den Fersen.
Der Autor ist Historiker und Journalist und lebt bei Köln