07.06.2014: Literatur als Wahrheit (Tageszeitung junge Welt)

Literatur als Wahrheit
Von Hansgeorg Hermann

Die Wahrheit? Was mag Wahrheit heutzutage im sogenannten Mutterland der Demokratie sein, in Griechenland? In diesem unserem Europa, gesteuert vom Finanzkapital, kontrolliert und beherrscht von einer sogenannten »Troika«, von einer deutschen Kanzlerin Merkel, die sich »Mutti« nennen läßt, ist der Begriff »Wahrheit« im täglichen Leben der Menschen nur noch ein leeres Wort ohne Bedeutung. »Wahrheit«, so einer noch von ihr reden möchte, beschränkt sich auf das, was Nietzsche noch als Medizin, als heilenden Seelenbalsam wahrnahm – auf die Kunst im allgemeinen und auf die Literatur im besonderen. Das war in Griechenland eigentlich schon immer so. Das kurze Aufatmen des – im Sinne der attischen Polis – »mündigen Bürgers« am Ende der Militärdiktatur im Jahr 1974 hatte dem Volkskörper ein wenig Luft verschafft. Nun ist sie ihm eine Generation später schon wieder ausgegangen. Niemand atmet mehr auf. Das Volk, Gefangener eines Systems, das nicht einmal das Seufzen dulden will, hat in der Tat nur noch seine Dichter, wenn es Wahrheit finden will. Sei sie nun »häßlich« oder nicht.

 

07.06.2014: Literatur als Wahrheit (Tageszeitung junge Welt).

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