Reisetagebuch 2013

Reisetagebuch 2013

 

Vier Tage vor dem Abflug nach Athen: Überlegungen zu unserer geplanten Solidaritätsreise nach Griechenland

Wir haben beschlossen, als Zeichen der Solidarität nach Griechenland zu fahren. Wir wollen uns selbst ein Bild machen von den verheerenden sozialen Zuständen. Wir wollen Kontakte vertiefen und neue aufbauen mit denjenigen, die sich seit zwei Jahren gegen die von der Troika verordneten Spardiktate zur Wehr setzen. Wir wollen ihnen zeigen, dass es auch im relativ ruhigen Deutschland KollegInnen gibt, die sie unterstützen. Nach unserer Rückkehr werden wir die (während dieses Streiks) gewonnenen Erfahrungen weitergeben – damit die Idee der grenzübergreifenden Solidarität stärker wird und sich ausbreitet, berichtete der ver.di-Gewerkschafter Rolf Becker in einem NRhZ-Artikel vom 29.8.2012.

Inzwischen fand eine zweite Solidaritätsreise nach Griechenland statt. Die Reisetagebücher der TeilnehmerInnen und Fotos dazu haben uns dankenswerterweise der Hamburger GEW-Gewerkschafter im Ruhestand Manfred Klingele und der engagierte Fotograf Andreas Hesse zugänglich gemacht.

Am 17. September, vier Tage vor dem Abflug nach Athen häufen sich in der Presse die Meldungen und Berichte aus/über Griechenland. Ich gewinne den Eindruck, dem Land steht eine Periode verschärfter sozialer und politischer Auseinandersetzungen bevor. Reisen wir zum Auftakt eines Stückes, das mit dem Sturz der jetzigen Regierung enden wird? Die vielen Kontakte und geplanten Treffen werden jedenfalls informativ und spannend angesichts der Ereignisse in dieser Woche.

Die teilweise schon vor den Sommerferien beschlossenen Sparmaßnahmen haben zu einer Welle von Streiks geführt. Im Mittelpunkt stehen die Mitglieder der Lehrergewerkschaft OLME, die einen fünftägigen Arbeitskampf führen und am Freitag beraten wollen, ob sie ihn in den nächsten Tagen fortführen werden. Welch ein Glück, dass wir in der Woche des 1. Mai in Deutschland den Athener Lehrer Nikos kennen gelernt haben. Er wurde inzwischen in die nationale Leitung von OLME gewählt und hat ein Treffen mit KollegInnen seiner Gewerkschaft in Athen für Mittwoch, den 25. September, organisiert. Ebenfalls auf seine Initiative gibt es ein Treffen mit GewerkschafterInnen aus den verschiedensten Branchen, die SYRIZA nahe stehen. Diesem Treffen messe ich eine besondere Bedeutung zu, denn SYRIZA hat die Bevölkerung zur Teilnahme an den Streiks und Demonstrationen aufgerufen mit dem Ziel, die jetzige Regierung zu stürzen und Neuwahlen einzuleiten. Das erscheint mir nicht unrealistisch zu sein. Die beiden Regierungsparteien, glaubt man den Pressemeldungen und Kommentaren, befürchten angesichts weiterer Sparmaßnahmen – und der Proteste dagegen – eine Erosion in den eigenen Reihen.

Am Sonntagvormittag treffen wir uns mit unseren UnterstützerInnen und DolmetscherInnen um die konkrete Planung der Besuchswoche vorzunehmen. Zu den bereits verabredeten Terminen werden sicherlich eine Reihe kurzfristiger Treffen und Auftritte hinzukommen, die sich aus den aktuellen Ereignissen und Protesten ergeben. Ein Glück, dass wir insgesamt 14 TeilnehmerInnen sind. So können wir uns notfalls aufteilen, zu wichtigen und zentralen Treffen aber auch gemeinsam und „öffentlichkeitswirksam“ auftreten.

Ein Termin, den wir schon festgelegt haben, ist der Besuch des besetzten ERT-Gebäudes, in dem der ehemals staatliche Fernseh- und Rundfunksender untergebracht war. Ich hatte erwartet/befürchtet, dass die Koalition das Gebäude durch die Polizei würde räumen lassen, nachdem die neue, abgespeckte und mit regierungskonformen Journalisten besetzte Sendeanstalt vor einem Monat gegründet wurde. Offensichtlich wollten ND und PASOK kein weiteres Öl ins Feuer gießen angesichts der breiten Solidarität mit der Besetzung und der jüngsten Proteste. Für die BesetzerInnen des ERT-Gebäudes würde ein Sturz der Regierung neue Perspektiven eröffnen für ihren Kampf um den Erhalt des Senders und für eine journalistisch unabhängige Berichterstattung, die es auch in der alten Sendeanstalt nicht gab. Zu groß war der Einfluss der alten „Systemparteien“ ND und PASOK auf die Personalplanung im Sender und die Inhalte der Programme.

Ein weiteres Treffen mit GewerkschafterInnen wird der Besuch des Arbeiterzentrums in Livadia sein. Es ist die Hauptstadt der Region, in der auch das Werk von „Aluminium of Greece“ liegt. Mit Yannis, Gewerkschaftsrepräsentant auf der Aluminiumhütte und Abgeordneter für SYRIZA im Parlament, hatten wir schon im September letzten Jahres und bei seinem Gegenbesuch viele intensive Diskussionen. Und zwei Mitglieder unserer Reisegruppe aus Darmstadt waren erst im Juni in Livadia und besuchten auch die Gedenkstätte für die Opfer der deutschen Wehrmacht in Distomo. Im Arbeiterzentrum – das ist der Zusammenschluss der regionalen Gewerkschaftverbände – werden wir neben der Erörterung der gewerkschaftspolitischen Perspektiven auch das soziale Zentrum besuchen. Es wird vom Arbeiterzentrum geführt und bietet eine Reihe von Sozialeinrichtungen wie z.B. einen sozialen Supermarkt für bedürftige Menschen und eine Kleiderkammer.

Die sozialen Selbsthilfeeinrichtungen bilden einen weiteren Schwerpunkt unserer Besuchsreise. Am Sonntagnachmittag (22.9.) werden wir das soziale Zentrum in Perama besuchen. In Perama, einem Stadtviertel von Piräus, beträgt die Arbeitslosigkeit 80 Prozent. Aber nicht nur als Brennpunkt des sozialen Elends infolge der kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzkrise ist der Besuch für mich besonders wichtig. In Perama haben am Freitag letzter Woche die faschistischen Schlägertrupps der „Goldenen Morgenröte“ eine Gruppe der KKE-Jugend beim Kleben von Plakaten überfallen und etliche verletzt. Christos, den wir bereits im September letzten Jahres als einen der Organisatoren des Selbsthilfenetzwerkes „solidarity for all“ kennengelernt haben, wies in seiner jüngsten Mail noch einmal auf diesen aktuellen Vorfall und dessen Bedeutung hin.

Es werden bei unseren Gesprächen in Athen und in Thessaloniki – beim selbstverwalteten Betrieb VIO.ME. und in der „Gesundheitspraxis der Soldarität“ – die Fragen im Mittelpunkt stehen, die sich aus den aktuellen Ereignissen ergeben. Kann die Regierungskoalition aus ND und PASOK noch durchhalten? Welche Perspektiven ergeben sich, sollten die jetzigen Proteste zu Neuwahlen und einer Regierungsbildung durch SYRIZA führen? Was bedeutet dies für die Gewerkschaften, die soziale Selbsthilfebewegung und für antirassistische und antifaschistische Initiativen? Eine Menge von Fragen, die wir sicherlich in den geplanten Treffen erörtern werden. Unsre FreundInnen aus Griechenland müssen die Antworten in ihrer gewerkschaftlichen und politischen Alltagsarbeit finden.

Eine Linksregierung in Griechenland wird meines Erachtens auf erbitterten Widerstand stoßen. Die Vertreter der „Troika“ (allen voran die Bundesregierung) werden wohl nicht so leicht nachgeben, sondern den Druck dann eher noch verschärfen. Ansonsten wäre Griechenland ein Vorbild für die Bevölkerungen anderer südeuropäische Länder nach dem Motto: Ihr könnt die Spardiktate zu Fall bringen oder entschärfen, indem ihr der Linken eine parlamentarische Mehrheit verschafft. Nur wenn der Funke überspringt, also in anderen Euro-Staaten der Widerstand wächst, wird die „Troika“ zur Entschärfung der Lage, zu Zugeständnissen bereit sein. Die internationale Solidarität ist im Falle eines Wahlerfolges von SYRIYA also erst recht notwendig. Die Kräfteverhältnisse in Europa lassen sich nicht allein durch die griechische Bevölkerung verändern. Leider ist es bei uns in Deutschland um diese Solidarität nicht gut bestellt. Wir können nur denen, die Interesse zeigen, über unsere Erfahrungen berichten. Ansonsten müssen wir abwarten, was nach der Bundestagswahl dem „deutschen Michel“ (Steuerzahler) von der nächsten Regierung präsentiert wird. Dann wird wohl scheibchenweise die Wahrheit über die Kosten der Bankensanierung, die den WählerInnen als „Rettungspaket für Griechenland“ verkauft wird, auf den Tisch kommen.

Auch innenpolitisch stände eine durch SYRIZA geführte Regierung unter erheblichem Druck. Die Rechte, insbesondere die ND und die „Goldene Morgenröte“, würden wohl alles in ihrer Macht stehende tun, um eine solche Regierung zu Fall zu bringen. Sie verfügen nicht nur über die Unterstützung finanzstarker Kapitalgruppen und deren Einfluss auf die Presse. Die Anhänger der Rechtsparteien und der Faschisten sitzen im Beamtenapparat, in der Justiz, dem Militär und der Polizei.

Mittwoch, 18. September: Mord an Pavlos Fyssas

Heute früh erreichten mich die ersten dürftigen Meldungen über den Mord an Pavlos Fyssas. Er war als Antifaschist bei ANTARSYA aktiv und als Hip-Hop-Musiker in Griechenland unter dem Namen „Killah P“ bekannt. Die faschistischen Schlägerbanden haben erneut zugeschlagen. Der Tatort liegt in der Nähe von Perama, wo wir das soziale Zentrum besuchen werden. Wir werden am Sonntagnachmittag den Tatort besuchen um unsere Anteilnahme und die Solidarität mit dem antirassistischen und antifaschistischen Kampf zum Ausdruck zu bringen.

Das Anwachsen des Einflusses der „Goldenen Morgenröte“ – die Wahlumfragen sehen sie bei 13 bis 15 Prozent –  verdeutlicht mir noch einmal auch die Gefahren der Entwicklung. Zunehmende Verelendung stärkt nicht als Selbstläufer den Widerstand und deren gewerkschaftliche und politische Organisationen. Wenn die Linke versagt, weil sie der Masse keine gangbare Perspektive zu bieten vermag und sich in Grabenkämpfen selbst aufreibt, werden Rechtspopulisten und Faschisten die Nutznießer sein.

(Andi)

Samstagabend, 21.9.2013

Mit Eurydike und Moisis

 Abends kamen Eurydike und Moisis zu uns ins Hotel. Beide hatten wir letztes Jahr kennen gelernt, Eurydike war auch bei dem Gegenbesuch Ende April/Anfang Mai in Deutschland dabei. Beide sind Journalisten, aber in einer unterschiedlichen Situation. Während Eurydike ihren Job bei einer großen Zeitung noch hat, ist Moisis arbeitslos. Letztes Jahr hatte er uns erzählt, dass er einer von vielen Griechen ist, die ohne feste Bezahlung arbeiten. Seinen kaum bezahlten Job bei einer kleinen Zeitung gab er im Juli auf und versucht nun irgendwas im Internet zu machen.

Moisis ist in der Journalistengewerkschaft aktiv und wurde im November letzten Jahres zur Zielscheibe der faschistischen Partei „Goldene Morgenröte“ (Chrysi Avghi, im folgenden CA abgekürzt), die ihn als jüdischen Maulwurf in der Gewerkschaft denunzierte. Eurydike kannte ihn vom Namen her, hatte auch bei den Vorstandswahlen für ihn gestimmt, traf ihn aber jetzt zum ersten Mal persönlich.

Natürlich ging unser Gespräch vor allem um den Mord an dem linken Sänger am Mittwoch, der von einem Mitglied der CA verübt wurde. Im Moment ist die öffentliche Aufregung groß, alle Zeitungen und Fernsehsender berichten groß darüber und zeigen sich entsetzt. Dabei hatten viele von ihnen in der letzten Zeit prominenten CA-lern eine Plattform geboten und z.T. offen darüber nachgedacht (wie z.B. die „Kathimerini“, so was wie die FAZ für Griechenland), dass die CA eine Koalition mit der Regierungspartei Nea Demokratia (ND)eingehen könne, wenn deren jetzige parlamentarische Mehrheit noch mehr schwinden würde. Nach dem Mord wird großes Entsetzen demonstriert und man distanziert sich allenthalben. Von der Regierung wird über ein Verbot nachgedacht, dabei würde es genügen, wie Eurydike betonte, dass man die bestehenden Gesetze anwendet, denn die CA hat in der letzten Zeit hunderte von Verbrechen vor allem gegen Migranten begangen, die aber nicht verfolgt und bestraft wurden. Würde man das tun, dann würde sich ein Verbot erübrigen. Als Beispiel für das Gewährenlassen der CA-Gangster nannte Eurydike, dass die Regierung jetzt nach dem Mord der Staatsanwaltschaft Akten über CA-Verbrechen übergeben hat, die sie seit zwei Jahren unter Verschluss gehalten hatte.

Es scheint so etwas wie ein großes Erschrecken eingesetzt zu haben, da jetzt ein populärer griechischer Sänger zum Opfer wurde, wohingegen die fast täglichen Angriffe auf Migranten durch CA-Mitglieder keinen allgemeinen Aufschrei ausgelöst hatten.

Moisis berichtete über eine gewisse Wandlung im Denken der KKE (kommunistische Partei). Bis vorletzte Woche noch waren für die KKE alle Parteien von Syriza über PASOK bis zu den Faschisten von der CA alles „Systemparteien“, die es allesamt abzulehnen und zu bekämpfen gelte. Als Moisis in der Journalistengewerkschaft einen Antrag einbrachte, der die Journalisten dazu auffordert, der CA keine Plattform zu geben, wandten sich die KKEler dagegen: Sie seien gegen „Zensur“! Als nun Anfang der Wochen KKE-Anhänger von CA-Leuten verprügelt wurden und am Mittwoch der Mord passierte, änderten sich die Aussagen. So äußerte eine KKE-Parlamentsabgeordnete im Fernsehen, dass die Mitglieder von KKE, Syriza und anderen linken Parteien gemeinsam gegen die Faschisten vorgehen müssten. Es scheint sich so langsam der Gedanke zu verbreiten, dass die Faschisten alle Linken zu ihrem Feind haben und ihnen deren Differenzen egal sind.

Moisis ist unermüdlich dabei, in seiner Gewerkschaft und darüber hinaus, für eine antifaschistische Einheitsfront zu werben, die alle einschließen soll, die die Gefahr durch die CA sehen. Jetzt nach dem Mord könnte dieses Anliegen auf größere Resonanz stoßen als bisher vor allem bei der Linken. Für viele Linke galt bisher, wie Moisis erklärte, dass man in der Theorie von der Notwendigkeit der Zusammenarbeit überzeugt war, in der Praxis aber alles tat, um sich voneinander abzugrenzen. Diese Haltung zu überwinden hält er für die vordringlichste Aufgabe derzeit.

(Manfred)

Sonntag, 22.09.2013
Vormittag

Heute haben wir uns um 10.00 h auf der Dachterasse verabredet, um zu besprechen, wie wir unseren Tag organisieren wollen, wer eine Rede halten wird etc. Nach und nach treffen alle Mitglieder unserer Gruppe ein und die nötigen Absprachen können getroffen werden.

Ab 11.00 h treffen unsere griechischen Freund/innen und Kontaktpersonen ein:

Vassia, Eyridike, Danae, Jennifer, Heike, Damon, Christos und später Yannis.

Vom Nationalrat (für die Entschädigungsforderungen an Deutschland) sind außer Damon noch zwei weitere Vertreter des Vorstands gekommen.

Damon moderiert das Treffen und gibt das Wort an Andreas vom Nationalrat, einem Kardiologen, der uns begrüßt und sich für die Solidarität bedankt.

Sie kämpfen für Reparationszahlungen von der dt. Regierung, erleben dabei aber, dass die griechische Regierung keinerlei Anstalten unternimmt, um diese Entschädigungen einzufordern und auch zu erhalten.

Heike Schrader bekommt das Wort und erläutert die aktuelle Situation in Griechenland.

Im Moment wird alles vom Mord an Pavlos Fissas überschattet. Dabei handelt es sich nicht um den ersten Mord, der von der goldenen Morgenröte verübt wurde; anders ist, dass mit Pavlos zum ersten Mal kein Migrant, sondern ein Grieche ermordet wurde, und anders ist auch, dass zum ersten Mal die Beweislage klar ist. Heike geht darauf ein, dass die griechische Verfassung keine Parteienverbote vorsieht, aber es besteht die Möglichkeit die goldene Morgenröte als kriminelle Vereinigung zu erklären und die Spitze der Partei als Anstifter an der Ermordung zu verurteilen, was in der Konsequenz auch zum Stopp weiterer staatlicher Unterstützung führen würde.

Sie berichtet vom Streik der Lehrer/innen, der in der letzten Woche über zwei Tage geführt wurde. Sie merkt an, dass die Aktionen im Ausland als stärker wahrgenommen würden, als sie tatsächlich sind. Es gibt keine Streikkassen, so dass die Teilnahme an Streiks einen hohen Preis kostet, den sich viele aus wirtschaftlicher Not kaum noch leisten können. Bei einem Einkommen von ca. 900 Euro kostet jeder Streiktag ungefähr 65 Euro, ein Betrag, den viele nicht mehr kompensieren können.

Vassia z.B. ist Gymnasiallehrerin. Zusammen mit ca. 3.500 ihrer Kolleg/innen ist sie in diesem Sommer an die Grundschule versetzt worden. Schulen der Oberstufe wurden geschlossen, Fächerkombinationen und Ganztagsschulen wurden abgeschafft, die Klassenstärke wurde erhöht, Förderprogramme werden ersatzlos gestrichen.

Das Ministerium hat die Umstrukturierung und die Versetzung als Mobilität bezeichnet, aber im Moment weiß niemand, ob die Stellen erhalten bleiben. Das Bildungsministerium ist geschickt und greift nicht in die Struktur der beiden Schulstränge Gymnasien und Grundschulen gleichzeitig ein. Deshalb fühlen sich die Grundschullehre/innen derzeit sicher.

Ein Mitglied des Nationalrats berichtet uns von der Forderung des Rats Entschädigungsleistungen für die Opfer der faschistischen Gräueltaten von der Bundesregierung zu erhalten. Persönlich stammt er aus Distomo, einer Stätte in Griechenland, an der die deutschen Faschisten am 14.09.1943 ein Massaker verübt haben. Bis heute gibt es keine Entschuldigung der dt. Regierung, geschweige denn Entschädigungszahlungen. Er formuliert seine Hoffnung an uns, dass wir als Botschafter zurückgehen und Entschädigungen für die Opfer einfordern.

Christos‘ Bericht beginnt mit der Botschaft, dass sich der Widerstand gegen die Regierung neu formiert hat. Bis zur Schließung des Senders ERT war es der griechischen Regierung gelungen, ein Bild abzugeben, indem Schritte des Aufschwungs vermittelt wurden. Nach der Besetzung von ERT zeigt sich die Ratlosigkeit und Unfähigkeit der Regierung nur zu deutlich.

Die Regierung versteht jeden Streik als politischen Streik und nicht mehr als Arbeitskampfmaßnahme. In der Bevölkerung herrscht große Wut, die Stimmung während der aktuellen Streiks ist so gut, wie in den letzten 1 1/2 Jahren nicht mehr. Auch er geht darauf ein, dass versäumt wurde, eine Streikkasse aufzubauen, was es erschwert den Kampf zu radikalisieren.

Ausführlich geht er auf die Vorgehensweise der goldenen Morgenröte ein. Die Ermordung von Pavlos Fissas war nur einer von 4-5 Angriffen allein in der vergangenen Woche. Die Faschisten versuchen die Wut der Bevölkerung für ihre kranke Ideologie zu nutzen und zu manipulieren, sie bieten sich der Regierung als Koalitionspartner an. Die Straffreiheit, das Nichtverfolgen von rechten Straftaten kann als Erlaubnis zum Mord an Pavlos Fissas gewertet werden. Nach dem Mord und den starken Gegendemonstrationen der Linken sinkt die Attraktivität der Rechten in der Bevölkerung, liegt aber immer noch auf einem „Sympathiewert “ von gut 6%. Wichtig ist es daher, den Faschisten das Rückgrat durch permanenten massiven öffentlichen Druck zu brechen.

Nachmittag

Nach den ersten Informationen fahren wir gemeinsam an den Tatort des schändlichen Mordes an Pavlos Fissas. Er liegt in einem Stadtteil von Piräus, Keratsini. Pavlos Fissas war ein Hip-Hop-Musiker, Killah P, der sich in seinen Texten gegen die Goldene Morgenröte wandte. Ein Tisch mit Blumen ist aufgestellt worden und auch während unseres Aufenthalts am Tatort kommen immer wieder Leute aus der Nachbarschaft um Blumen und Botschaften niederzulegen. Die Stimmung wirkt bedrückt und auf den Gesichtern spiegelt sich noch immer die Fassungslosigkeit. Auf einem Transparent prangt eine Zeile aus einem alten Antifalied:

„Sie töten, die Faschisten, das lächelnde Kind“

Darunter steht: Zurück Ihr Mörder!

Rolf legt für die Gruppe rote Rosen am Tatort ab und hält eine bewegende Rede.

Nach der Rede bedanken sich Anwohner bei Rolf und der Gruppe für die Solidarität. Die Ortsgruppe von Syriza lädt uns zum gemeinsamen Mittagessen ein, bevor wir ins Soziale Zentrum in Perama aufbrechen. Perama ist ein benachbarter Stadtteil in Piräus am Hafen.

Das Center ist eine selbstorganisierte solidarische Struktur und existiert seit gut zwei Jahren. Babis vom Zentrum, der uns über die Situation in Perama informiert, führt aus, dass Solidarität ihre Stärke ist und dass diese Solidarität zum Sturz des Systems führen wird.

Die Lage in Perama ist aufgrund des Niedergangs der Werftindustrie, die dieses Viertel prägt, dramatisch. Die Arbeitslosenrate liegt bei ca. 90%. Es fehlt an allem, auch an Nahrungsmitteln. Das Center unterstützt im Moment ca. 100 Personen mit Lebensmitteln. Es gibt Familien, in denen in den letzten 2-3 Jahren niemand auch nur einen einzigen Tag Arbeit gehabt hat. Deshalb hat die Unterstützung auch genau an dieser Stelle angefangen, damit die Menschen überleben können. Aber bei der hohen Arbeitslosenrate ist klar, dass nur ein kleiner Anteil von Familien unterstützt werden kann. 95% der Mitglieder im Center sind selbst arbeitslos.

Durch illegale Stromverbindungen werden Menschen wieder ans Netz angeschlossen, denen der Strom aufgrund von ausbleibenden Zahlungen gekappt wurde. Besonders wichtig ist das bei Kranken, die dadurch eine Erleichterung ihres harten Alltags erfahren. Auch die Wasserversorgung wird in ähnlichen Fällen illegal wiederhergestellt.

Aber es werden nicht nur Lebensmittel und Energie verteilt, sondern politische und soziale Themen bewegt. Streikmaßnahmen werden gemeinsam begleitet und aktiv unterstützt.

Es werden politische Werte vermittelt und die Aktiven im Zentrum berichten, dass sie sich durch ihre Tätigkeit im Zentrum selbst entwickeln.

Perama ist stark von den Werften und der guten Beschäftigungsstruktur dort geprägt gewesen. Bis 2008 gab es ca. 9.000 bis 10.000 direkt Beschäftigte, bis zu 25.000 Arbeitsplätze existierten insgesamt, wenn man die Zulieferbetriebe mitzählt. Nach 2008 gab es immerhin noch 5.000 Arbeitsplätze, bis der Kollaps durch die Wirtschaftspolitik der Regierung eintrat.

Durch die Arbeitslosigkeit leben heute viele Menschen in Perama im Elend, es gibt kein soziales Auffangnetz, daher ist ein menschenwürdiges  Leben nicht mehr möglich. Es sei nicht übertrieben, wenn man sage, es gehe um Leben und Tod!!!!!

Heute werden in den Werften auf Abruf bis zu 500 Arbeitnehmer benötigt, die als Tagelöhner ihr Leben fristen. Die sozialen Strukturen sind völlig zusammengebrochen, so dass der alltägliche Kampf sich darum dreht, die wichtigsten Bedürfnisse der Menschen zu decken.

Leider haben die Faschisten auch in Perama die Situation nutzen können, der Anteil ihrer Anhänger wird auf ca. 11% geschätzt. Es ist daher die Pflicht der Bevölkerung in Perama den Widerstand gegen den Faschismus aufzubauen und erfolgreich zum Ziel zu führen. Es ist wichtig ihr klarzumachen, dass die Opfer gestern die Immigranten waren, heute ist es der Grieche Pavlos Fissas und morgen sind es die eigenen Kinder. Daher ist die Aufklärungsarbeit ein wichtiger Bestandteil im Kampf gegen die Faschisten.

Das Center in Perama plant eine Volksküche aufzubauen, benötigt dringend Unterstützung.

Peinlich ist es unseren Gästen uns um Hilfe zu bitten. Als Manfred und Andi 1.200 Euro als direkte Unterstützung überreichen, ist dies eine mehr als willkommene Unterstützung für ihre Solidararbeit.

Gemeinsam gehen wir anschließend auf das vom Center organisierte Nachbarschaftsfest, auf dem den Besucher/innen nicht nur Musik, etwas zu essen und zu trinken geboten wird, sondern auch Vorträge über Veränderungen z.B. im Bildungswesen erläutert werden und ein Aufruf gestartet wird, nicht mehr benötigte Arzneimittel abzugeben, damit diese in der Sozialklinik verwendet werde können.

Alex verliest auf dem Fest eine Solierklärung der Antifaschistischen Linken Berlin (ALB), in dem die Verbindung zwischen dem Mord an Pavlos Fissas und dem Mord an Silvio Meier, begangen von Neonazis in Berlin 1992, gezogen wird.

Gegen 21.00 h fahren wir zurück nach Exarchia. Die Köpfe sind voll, die Eindrücke müssen erst mal sacken. Die heutigen Erlebnisse drängen das schaurige Ergebnis der Bundestagswahl weit in den Hintergrund.
(Doris)

Redebeitrag von Rolf am Ort, wo Pavlos Fissas am 18.9.2013 ermordet wurde.

 Begrüßung der Anwesenden, besonders der griechischen Kolleginnen und Kollegen, und der aus der griechischen Bevölkerung des Stadtteils Anwesenden

Wer sind wir? Zu unserer Reisegruppe gehören Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland und der Schweiz. Wir arbeiten in unterschiedlichen Branchen und sind in verschiedenen Gewerkschaften wie auch politischen Initiativen und Gruppen aktiv.

Wir verstehen uns als eine Initiative von unten; wir kommen weder als Vertreter politischer Parteien noch im Auftrag von gewerkschaftlichen Dachverbänden.

Was uns eint und zusammengeführt hat: Wir wollen hier in Griechenland ein Zeichen der Solidarität setzen! Unsere Reise wurde in Eigeninitiative geplant und organisiert – unterstützt durch die griechischen Kolleginnen und Kollegen, die wir in den letzten beiden Jahren kennen gelernt haben. Unser Anliegen:

Gegen Spardiktate, staatliche Repression und Nationalismus!

An diesem Ort des Gedenkens hinzuzufügen: und gegen jede Form wieder erwachenden Faschismus – nicht nur hier in Griechenland, auch bei uns in der BRD und in anderen Ländern der EU.Pavlos Fyssas, ermordet im Alter von 34 Jahren, ein junger Hip-Hop-Musiker, in Griechenland unter dem Namen „Killah P“ bekannt. Er war nicht das erste Opfer faschistischer Gruppierungen und Parteien – auch Migranten wurden von ihnen umgebracht. Aber Pavlos Fyssas war der erste, der sein Leben verlor, weil er diesen Volksverhetzern offen und öffentlich entgegentrat.

Die Führer(!) der Goldenen Morgenröte weisen jegliche Verwicklungen der Partei in den Mord von sich: die Attacke sei nicht politisch motiviert gewesen. Es seien im Gegenteil die Linken, die – wörtlich: „ein Klima der Polarisierung und des Krieges schaffen“. Sie greifen damit auf, was in zahlreichen Erklärungen von Politikern und Pressevertretern vorbereitet wurde.

Wachsamkeit vor dem Rückfall in Barbarei und einschläferndes Denken ist angesagt:

 Bertolt Brecht, zu Presse und anderen Medien:

„Wer die Wahrheit nicht weiß,

der ist bloß ein Dummkopf.

Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt,

der ist ein Verbrecher.“

(Aus: „Das Leben des Galilei“)

 Aus einer Erklärung, die Mikis Theodorakis gegen einen Abgeordneten der „Goldenen Morgenröte, der den Holocaust leugnete, veröffentlicht am 12. Juni 2013 in der griechischen Tageszeitung Ta Nea veröffentlichte, und auch in Deutschland von mehreren Tageszeitungen verbreitet:

„In Dachau und in Auschwitz wurden nicht nur die Juden ermordet. Der Mensch an sich wurde ermordet. Und seitdem stehen wir alle, die wir überlebt haben, in einer Schuld.
Das ist es, was mich so unerbittlich und entschieden gegen jeden vorgehen lässt, der es wagt, diesen Alptraum durch irgendetwas rechtfertigen zu wollen. Diese Verbrecher von damals haben meinen Glauben an den Menschen getötet. Und keine Macht der Welt kann mich dazu bringen, das zu vergeben.
Hinzu kommt, dass wir Griechen doppelten Grund haben, die Gräueltaten der Nazis zu verdammen:
Erstens, weil sie unser Land total zerstört haben und Tausende Griechen getötet wurden. Der Verlust dieser Menschen – für uns eine offene Wunde.

Zweitens:  Weil wir vorangehen müssen, wenn es darum geht, all jene Taten zu verurteilen, die einen Angriff auf die menschliche Würde und unser Geschichtsbewusstsein bedeuten. Ein Bewusstsein, auf das sich die höchsten Werte der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte gründen.“

Der Nationalsozialismus lebt in veränderter Form weiter, und wir wissen bis heute nicht, oder ahnen allenfalls, ob und in welchem Maß die Bereitschaft, das bisher geschichtliche Äußerste an menschlicher Bestialität zu wiederholen oder sogar zu überbieten, fortbesteht – sowohl in Menschen, wie auch in den Verhältnissen, unter denen sie leiden. Warum?

Dazu Bertolt Brecht, ein Zitat aus dem Jahr 1935:

„Wir müssen die Wahrheit über die barbarischen Zustände in unserem Land sagen, dass das getan werden kann, was sie zum Verschwinden bringt, nämlich das, wodurch die Eigen­tumsverhältnisse geändert werden.

Wir müssen es ferner denen sagen, die unter den Eigentums­verhältnissen am meisten leiden, an ihrer Abänderung das meiste Interesse haben, den Arbeitenden und denen, die wir ihnen als Bundesgenossen (Verbündete) zuführen können (…)

denn wir können die Wahrheit über barbarische Zustände nicht erforschen, ohne an die zu denken, welche darunter leiden.“

Unser Anliegen kann nur sein, und das nicht nur hier und heute:  

All unser Denken und Handeln darauf auszurichten, dass sich Untaten wie die an Pavlos Fyssas nicht wieder ereignen – im politisch und geschichtlichem Sinn: dass sich Auschwitz nicht wiederholen kann.

(Bitte um eine Schweigeminute)

Reisetagebuch 2013

Montagmorgen 23.9.: Solidarity4all

 Christos holte uns um zehn Uhr ab und wir gingen zum Büro von „solidarity4all“. Gestern waren wir ja bei einer Solidaritätsstruktur in Piräus-Perama, heute sozusagen im Vernetzungszentrum. Außer Christos sprachen mit uns noch zwei MitarbeiterInnen des Büros. Gleichzeitig arbeiteten in dem Büro noch vier oder fünf andere junge Leute. Letztes Jahr war ja dieses Netzwerk erst im Aufbau und es gab in Athen lediglich ein selbstorganisiertes Gesundheitszentrum, heute gibt es allein in Athen zehn Gesundheitszentren und im ganzen Land ca. 300 solcher lokalen Zentren, die sich um Gesundheitsversorgung, um Lebensmittelverteilung bis zu juristischer und schulischer Hilfe kümmern. Die Hilfe umfasst alle, also auch Ausländer und Flüchtlinge, wohingegen kirchliche Einrichtungen sich nicht um Migranten, und staatliche Stellen sich nicht um Ausländer kümmern.

Während die einzelnen Basiszentren sich um konkrete Hilfe an ihrem Ort kümmern, organisiert das Büro in Athen internationale Solidarität, aber auch nationale Kampagnen. Z.B. die Olivenölkampagne, wobei Olivenöl bei Produzenten eingesammelt und an Arbeitslose verteilt wurde; oder die Kampagne „Bildung für alle“, wobei Schulmaterial gesammelt und verteilt wurde und gleichzeitig auf den Kampf der LehrerInnen gegen Entlassungen und die Sparpolitik im Bildungssektor aufmerksam gemacht wurde; oder auch die Kampagne gegen Wohnungszwangsversteigerungen.

Das Büro begreift sich ausdrücklich nicht als Koordinations-Zentrale, sondern mehr als Dienstleister für die einzelnen lokalen Zentren in Form von Know How beim Aufbau neuer Strukturen oder mit spezifischer Hilfe in Fragen, bei denen die lokalen Gruppen überfordert sind wie psychotherapeutischer oder juristischer Hilfe z.B.

Es gibt allerdings in letzter Zeit mehr ein Bedürfnis der einzelnen Zentren nach Koordination, was vor einem Jahr noch anders war, als das Misstrauen gegen zentrale Strukturen überwog. Mittlerweile gibt es zwei Koordinationsstellen, eine für Gesundheitszentren und eine für Lebensmittelmärkte. Ziel des Büros ist die Vernetzung mit Basisstrukturen, die nicht Teil des alten korrupten Systems sind wie kirchliche und staatliche Einrichtungen. Solidarity4all heißt bewusst „für alle“. Dabei wollen sie, wie wir auch gestern schon erfuhren, die Leute einerseits praktisch einbinden in die Arbeit, also nicht nur Almosen verteilen, andererseits politisieren, d.h. sie treten dezidiert auch politisch auf.

Manche Kommunen wollen das kopieren, sie haben ein Budget, aus dem sie Hilfsmittel finanzieren können; aber die Leute müssen ihre Berechtigung mit Steuerbescheiden nachweisen, die viele aufgrund von Schulden nicht haben, oder sie können niemand bezahlen, der ihnen eine Steuererklärung macht.

Landesweit gibt es 25 Solidaritätsstrukturen, wie sie es nennen, die sich mit dem Aufkauf von Lebensmitteln bei Produzenten beschäftigen und diese auf Märkten verkaufen. Laut einer Statistik vom Mai haben schon 32% aller Griechen einmal auf so einem Markt gekauft. Manche Produzenten geben noch was extra dazu, Käufer können mehr kaufen und einen Teil abgeben für Menschen ohne Geld.

Es ist ihnen klar, dass sie weder eine alternative Ökonomie aufbauen noch einen Ersatz für das zusammengebrochene staatliche Gesundheitswesen schaffen können. Sie sehen ihre Arbeit quasi als praktizierte Forderung nach einem anderen System. So haben z.B. zu den Gesundheitszentren alle Menschen Zugang, ob mit oder ohne Versicherung, was im regulären System nicht garantiert ist. Aber die Forderung danach liegt durch die Arbeit der Zentren als Forderung an die nächste Regierung auf dem Tisch.

Drei gewerkschaftliche Arbeiterzentren (so was wie DGB-Ortsvereine), darunter die in Livadia und Saloniki, arbeiten als Solidaritätsstrukturen, ansonsten haben die Gewerkschaften keine Solidaritätsstrukturen.

Die Solidaritätszentren haben keinen legalen Status im Sinne von staatlicher Lizenzierung. Manche Kommunen akzeptieren sie, manche nicht, dort werden sie trotzdem durchgesetzt.

Uns gaben sie als Aufgabe im Ausland zu vermitteln, dass die Diskussion nicht nur um „faule“ oder „arme Griechen“ geht, sondern dass sehr viele Menschen aktiv im Widerstand organisiert sind.

Die Finanzierung des Büros erfolgt über die Sozialkasse von Syriza, die aus den 20%-Abgaben der Parlamentsabgeordneten auf ihre Diäten finanziert wird. Einen Teil dieses Geldes sowie das Geld vom Ausland, das gespendet wird, leiten sie an die örtlichen Strukturen weiter. Sie betonen, dass die Spenden vom Ausland ausreichten, um etwa 450 Familien ein Jahr über Wasser zu halten. Entscheidend seien aber die Aktivitäten vor Ort. Z.B. würden durch die Arbeit eines Zentrums in einer kleineren Stadt durch die Aktivitäten der Leute alleine 400 Familien unterstützt. Das bekräftigt, dass die entscheidende Kraft die Leute selbst sind, die sich beteiligen.

Zu dem Konflikt in dem Gesundheitszentrum in Saloniki berichten sie, dass der Konflikt von einer Gruppe aus Deutschland hineingetragen worden sei, die Kritik daran geübt habe, dass in dem Zentrum Syriza-Leute mitarbeiteten, die doch Reformisten seien. Dieser Konflikt sei aber in einem gemeinsamen Gespräch ausgeräumt worden.

Mein Eindruck: Da ist in dem einen Jahr was entstanden, was Hand und Fuß hat. Letztes Jahr waren es noch Hoffnungen. Wenn man sich auch über die immer noch relativ kleine Dimension nicht täuschen darf, existiert heute etwas Praktisches, sehr Unterstützenswertes.

 (Manfred)

Montagnachmittag, 23.09.2013

 Besuch bei ERT

 Gegen 16.45 h treffen wir beim durch die Regierung geschlossenen Sender ERT ein.

Sigrid und Reinhard waren im Juni bereits in Athen und haben die Schließung von ERT miterlebt und sich mit Tausenden von Demonstrant/innen im ERT Gebäude aufgehalten. Sie haben für uns den Kontakt zum Sender hergestellt.

Wir werden sehr freundlich empfangen. Panagiotis Kalfayannis, President Federation of Greek Broadcasting Unions PROSPERT, bemerkt einleitend, dass die Demokratie in Griechenland entwickelt wurde. Er sagt, dass die Älteren von ihnen sich noch gut an die Diktatur in den 60/70igern erinnern können und die Parallelen zur heutigen Situation erkennen. Nach seiner Einschätzung ging es Griechenland in der Diktatur besser als heute. Es gab Strom und Wasser für alle, es wurden Schulen gebaut. In der heutigen Diktatur werden Schulen und Krankenhäuser geschlossen, wird der Sozialstaat abgeschafft. Kultur und Bildung bekommen keinen ausreichenden Stellenwert mehr. Es ist keine Freiheit und keine Demokratie mehr existent. Griechenlands Gesellschaft hat sich zur Zwei-Klassen Gesellschaft entwickelt, die die Erfolge der faschistischen goldenen Morgenröte begünstigt hat.

Der Sender ERT wurde am 11.Juni ohne Vorwarnung in einem Akt von großer Machtdemonstration durch die Regierung geschlossen. Seither wird der Sender besetzt.

Mit Professionalität und Empathie wird die Arbeit seither in der besetzten Struktur fortgeführt. Er führt weiter aus, dass seine Kolleg/innen und er noch immer an die Solidarität der Völker glauben und dass die Völker Demokratie und Freiheit wollen. Diese Aussage können wir ausdrücklich unterstreichen.

Die ERT Beschäftigten arbeiten nun schon seit 100 Tagen ohne Bezahlung. Sie leben von den monatlich anteilig ausgezahlten Abfindungszahlungen, die nur schwer zum Leben reichen.

ERT hatte am Tag der Schließung 2.650 Beschäftigte, es gab drei innergriechische und einen internationalen Sender, sieben griechische und 19 Radiosender entlang der griechischen Grenzen mit 34 Netzverteilerstationen. Darüber hinaus gab es drei Orchester und seit 1938 eine Zeitschrift. Panagiotis sagt, dass nicht einmal Hitler es geschafft habe, ihre Arbeit zu beenden.

Die Regierung schuldet den Mitarbeiter/innen bereits seit acht Monaten Gehälter in einer Größenordnung von 30.000 Arbeitstagen; bereits seit zwei Jahren werden keine Urlaube mehr bewilligt und auch das Urlaubsgeld nicht mehr gezahlt. Darüber hinaus wurden die Gehälter um 50% gekürzt. Dabei ist ERT der einzige Sender in Griechenland, der stets Gewinne erwirtschaftet hat. Durch die Rundfunkgebühr in Höhe von 4,00 Euro pro Haushalt wurden monatlich 30 bis 35 Mio. Euro eingenommen. Allein in den letzten zwei Jahren hatte ERT sieben verschiedene Direktoren, verbunden war damit auch jeweils die Auswechslung des gesamten Direktoriums.

Durch die staatlich ausgeübte Zensur durfte nicht mehr über die im Land eingezogene Armut und die damit verbundenen Folgen, wie psychische Auswirkungen und Selbstmorde, berichtet werden.

Derzeit arbeiten bei ERT 300 bis 400 Personen Tag und Nacht, weitere ehemalige Beschäftigte kommen sporadisch in den Sender zum Arbeiten, einige der älteren Mitarbeiter/innen haben ihre Rente eingereicht, aber es gibt auch ehemalige Beschäftigte, die es nicht aushalten können in den Sender zu kommen und die Zerstörung ihrer Zukunft ansehen zu müssen.

Heute, in der besetzten Struktur von ERT, werden alle Entscheidungen durch Versammlungen getroffen. Alle sind gleichberechtigt.

Am kommenden Freitag, also am 27. September,  gibt es vor dem Verfassungsgericht eine Verhandlung, in der über die Rechtmäßigkeit der Schließung des Senders entschieden werden soll. Es ist nicht abschätzbar, wie das Gericht urteilen wird; die Möglichkeit, dass das Gericht der Regierung die Rechtmäßigkeit ihres Handelns bestätigt, ist möglich. Die ERT-Mitarbeiter/innen sind darauf vorbereitet, dass die Polizei in diesem Fall gewaltsam räumen wird. Sollte dies geschehen, so wird es eine Liveübertragung ins Web geben, um der Welt unmittelbar über die Stürmung durch die Uniformierten zu informieren. Es gibt auch ein gutes Netzwerk von Unterstützer/innen, die gegen eine evtl. Räumung durch die Polizei vorgehen werden.

Unsere Gastgeber versichern uns, dass sie sich nicht auf das Recht verlassen sondern auf die Kraft der Solidarität.

Nach der Info- und Diskussionsrunde gibt es das Angebot ein kurzes Interview in einer Livesendung zu geben. Gisela und Reinhard werden dazu eingeladen, da sie bereits im Juni nach der zwangsweisen Schließung des Senders vor Ort waren. Wir anderen gehen in die Cafeteria, um uns das Interview dort auf den Monitoren anzusehen. Wir verteilen unsere Flugblätter an die anwesenden ERT Beschäftigten.

Nach dem Interview  werden wir in die anstehende Vollversammlung eingeladen. Rolf hält dort eine Solidaritätsrede, die bei den Anwesenden gut ankommt. Wir werden spontan zu einem Konzert am Abend vor dem ERT-Gebäude eingeladen und wären gern bleiben, wenn wir nicht schon anderweitig verabredet gewesen wären.

Zum Schluss kommt eine Journalistin auf mich zu, die mir ihre umfangreichen Recherchen zu den psychischen Auswirkungen der Krise in Griechenland zeigen und erläutern möchte. Leider reicht die Zeit nicht aus, so dass ich sie bitten muss , den Kontakt zu uns aufzunehmen, damit wir uns über das Thema austauschen können.

Wir haben die Beschäftigten im Sender trotz der angespannten Situation als hoch motiviert erlebt. Die Stimmung ist gut, es wird viel miteinander geredet und diskutiert und – wie es in einem besetzten Sender nicht verwunderlich ist -wird überall viel geraucht.

Zum Abschluss unseres Besuchs bei ERT gelangen wir in eine äußerst schräge Situation. dieses bemerkenswerte Ereignis wollen wir nicht verschweigen.

Wir benötigen drei Taxis und begehen den Fehler, zwei vor dem Sender stehende Verkehrspolizisten nach der Richtung zu unserem Ziel zu fragen. Sie lassen es sich nicht nehmen, uns zum einen über die Straße zu geleiten und zum anderen ganz in der Manier von „Dein Freund und Helfer“ mit ordentlicher Machtdemonstration kraft Uniform und Trillerpfeife Taxis für uns heranzuwinken.

Einer der Taxifahrer beweist Charakter, schaltet sein Freizeichen aus und fährt weiter, hält aber nach wenigen Metern. Nun schlägt die Stunde der Uniformierten, die es sich nicht nehmen lassen, ausführlich die Lizenz des Fahrers zu kontrollieren. Wir fühlen uns schon hochgradig unwohl ob der Aktion der Bullen. Als dann einer der beiden mir zuruft, dass das Taxi nun für uns zur Verfügung stünde, wünschen wir uns, dass sich vor uns der Abgrund auftäte und uns unsichtbar machte.

Wir  besteigen zu viert mit einem beklommenen Gefühl das Taxi und reden sofort mit dem Fahrer, der zum Glück gut Englisch spricht und bei dem wir uns für dieses ungehörige Vorkommnis entschuldigen und ihm die Situation erklären. Uns ist das Vorgekommene unsagbar unangenehm und wir sind über das gute anschließende Gespräch mit dem Fahrer froh. Zum Abschluss wünschen wir uns gegenseitig viel Glück.

 (Doris)

Montagabend 23.9.

 Damon und Manolis Glesos

Nach dem ereignisreichen Besuch beim besetzten Fernsehsender ERT folgten  wir am Abend der Einladung von Damon zu sich nach Hause. Damon kennen wir als einen der treuesten Begleiter unseres ersten Besuches in Griechenland. Er war einladend und freundlich wie immer, obwohl er sich um seine kranke Frau sorgte. Er wollte sie noch am selben Abend im Krankenhaus besuchen.

Dennoch hat er uns überschwänglich begrüßt und eingeladen mit ihm zu diskutieren. Er lobte vor allem unsere Unabhängigkeit von den Gewerkschaftsstrukturen, denen er zutiefst misstraut. Besonders den offiziellen griechischen Gewerkschaften und den etablierten Parteien warf er vor Klientelpolitik zu betreiben, nur ihre eigenen Partikularinteressen zu vertreten. Deshalb erwartet er von ihnen auch nicht, dass sie die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend verändern wollen. Er hat seinen Standpunkt dazu in Büchern und vielen Schriften geäußert. Er hat auch keine (große) Hoffnung auf Syriza, die er für eine neue sozialdemokratische Partei hält. Sie würde, wenn sie an die Macht käme, das alte Zwei-Parteien-System fortführen – als neue PASOK.

 Mit dieser Einschätzung hat er Differenzen zu seinem Nationalratskollegen Manolis Glesos, der an dem Syriza-Projekt festhält. Manolis wohnt in der unmittelbaren Nachbarschaft und kam herüber, um mit uns zu diskutieren. Mit seinen 91 Jahren machte er einen sehr lebendigen Eindruck und forderte uns auf, nicht nur ihn zu befragen, sondern er stellte auch uns Fragen. Diese eindrucksvolle Persönlichkeit hatten wir bereits bei unserem letzten Besuch vor einem Jahr in Keseriani, am Denkmal für von den Nazis ermordete Widerstandskämpfer, kennen gelernt. In Griechenland wurde er zu einem Symbol des antifaschistischen Widerstands gegen die Besetzung des Landes durch die deutsche Wehrmacht. Zusammen mit einem Genossen gelang es ihm 1941 die Hakenkreuzfahne von der Akropolis zu holen.

Über die damalige Zeit erzählte er uns: Gegen Endes der Besatzungszeit sei er inhaftiert worden. Er war zusammen mit „normalen/gewöhnlichen“ Kriminellen untergebracht. Während seiner Haftzeit gab es zwei Erlasse. Zunächst gab es das Angebot, dass alle bis zu drei Jahren Verurteilte freigelassen werden sollten, wenn sie bereit wären zu kollaborieren und die Naziuniform anzuziehen. Später wurde dieses Angebot auch auf die lebenslänglich Verurteilten ausgedehnt. Wie sollte er sich verhalten? Diese Frage leitete er an uns weiter. „Seiner Überzeugung treu zu bleiben“ war eine Antwort  aus unserem Kreis. Manolis bestätigte diese Haltung. Er selbst habe versucht die „kriminellen“ Mitgefangenen zu überzeugen, sich der Widerstandsbewegung anzuschließen und nicht zu kollaborieren. Das sei ihm auch bei einigen gelungen.

Auf die Faschisten der Goldenen Morgenröte angesprochen, führte er deren Wahlerfolge auf das Versagen der alten Systemparteien zurück. Die Wähler wollten sie mit ihrer Stimmabgabe bestrafen. Die Goldene Morgenröte spiele das Flüchtlingsproblem aus. Die Wähler, die an deren Ideologie glaubten, wären allerdings eine Minderheit, sie machten 0,7% der Bevölkerung aus. Der Faschismus in Griechenland sei kein neues Phänomen. Auch während der deutschen Besatzungszeit gab es eine Organisation von griechischen Verrätern, die mit der faschistischen Besatzungsarmee zusammenarbeiteten. Ihr propagiertes Selbstverständnis: nationalsozialistisch, patriotisch, griechisch. Während der Besatzung wurde das Bürogebäude dieser faschistischen Organisation in die Luft gesprengt.

Auf die Frage nach seiner Haltung gegenüber der KKE reagierte Manolis mit einer unmissverständlichen Geste – aus seinem Gesichtsausdruck konnte man auch ohne Worte seine Kritik an der Kommunistischen Partei ablesen. Er selbst war jahrelang an führender Position im Zentralkomitee tätig gewesen und habe selbst an die Notwendigkeit der Parteidisziplin geglaubt, die es untersagte, Differenzen und Widersprüche öffentlich zu benennen. Ein Schlüsselerlebnis, das zum Bruch mit der KKE beitrug, war offensichtlich sein Besuch in der DDR 1955, von dem er uns berichtete. Als Vertreter des ZK der KKE sprach er gegenüber dem Genossen Walter Ulbricht auch die Reparationsforderungen an. Ulbricht war sprachlos – wie heutzutage Schäuble, merkte er ironisch an.

 Die Bündelung der vielfältigen Linkskräfte in Syriza hält Manolis für einen Fortschritt. Die Feststellung, sie hätten dadurch bei den letzten Wahlen in Griechenland über 27 Prozent der Stimmen erreicht, verband er mit der Frage: Was ist aus den großen und stolzen Kommunistischen Parteien in Italien, Spanien und Frankreich geworden und was ist von der starken revolutionären Bewegung zu Zeiten Rosa Luxemburgs in Deutschland übrig geblieben?

 Auf dem letzten Parteitag von Syriza machte Manolis Glezos mit seiner Kritik an dem Parteivorsitzenden Tsipras Schlagzeilen. Er kritisierte dessen Pläne zur Schaffung einer einheitlichen Partei und zur Auflösung der einzelnen Bündnis-/Mitglieds-Organisationen innerhalb von Syriza. Auf die Programmatik seiner Gruppierung innerhalb von Syriza angesprochen, antwortete Manolis:

  1. Sie seien der Meinung, dass die ideologischen Differenzen beiseite geschoben werden sollten zugunsten der praktischen Frage – wie können wir dem griechischen Volk helfen, einen Ausweg aus der Krise zu finden? Nur durch die Pluralität sei es gelungen, verschiedene Strömungen der griechischen Linken zusammen zu führen. Waren es anfangs nur fünf Organisationen, die sich zu Siryza zusammengeschlossen hätten, gäbe es mittlerweile 18 Organisationen und Gruppierungen.
  2. Sie würden an alle anderen Linkskräfte außerhalb von Syriza appellieren, gemeinsamen den Kampf zu führen.
  3. Es sei die Aufgabe der Partei, nicht selbst nach der Macht zu streben, sondern dem Volk zu helfen, die Macht in die eigenen Hände zu nehmen. Voraussetzung dafür sei, dass die innerparteilichen Standpunkte und Differenzen offen dargelegt werden, damit sich die Bevölkerung selbst eine Meinung bilden und Stellung beziehen kann.

 Eine weitere Frage war, ob Syriza, sollte sie die nächste Regierung stellen, den Hoffnungen der Bevölkerung gerecht werden könne. Entwickele sich Syriza nicht zu einer Systempartei im Stile der PASOK? Manolis Antwort: Nein, niemals! Und wenn, wir sähen ihn laut schreiend auf dem Dach, um dagegen zu protestieren, fügte er noch an.

 Wir hätten sicherlich noch lange weiter diskutieren können. Aber unsere Kondition in den späten Abendstunden und der Wunsch von Damon bei seiner Frau im Krankenhaus zu übernachten, ließen dies nicht zu. Zum Abschied erhielt jede/r von uns noch ein von Manolis persönlich signiertes Buch über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht in Griechenland.

(Hans/Andi)

Reisetagebuch 2013

Dienstag  tagsüber, 24.9.

 

Die Demonstration der LehrerInnen und des Öffentlichen Dienstes

Um kurz vor elf gingen wir mit Vassia zur Demonstration der Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes. Diese hatten für heute zu einem allgemeinen Streik aufgerufen um insbesondere den Streik der LehrerInnen zu unterstützen, der diese Woche für Dienstag und Mittwoch ausgerufen wurde. Sie hatten letzte Woche auch schon zwei Tage gestreikt. Hintergrund sind die Abbaumaßnahmen im Bildungssektor: Entlassungen aller Hausmeister, Schulzusammenlegungen, höhere Klassenfrequenzen, längere Arbeitszeiten, massiver Stellenabbau, Versetzung frei werdender SekundarschullehrerInnen an die Grundschule usw. Im Öffentlichen Dienst insgesamt gibt es vergleichbare Maßnahmen, insbesondere die Versetzung Tausender KollegInnen in die sogenannte Reserve, in der sie für acht Monate 75% des Gehalts bekommen und danach entlassen werden, wenn sie keine neue Stelle gefunden haben.

Auf dem Platz der Auftaktkundgebung trafen die TeilnehmerInnen nach und nach ein. Obwohl offizieller Beginn 10.30h war, waren noch nicht allzu viele da. Aber es füllte sich allmählich.

Wir hatten unsere zwei Transparente dabei (auf Deutsch und auf Griechisch) sowie Flugblätter mit unserer Reisererklärung auf Griechisch und trafen auf reges Interesse. Offensichtlich waren wir etwas Besonderes, denn während der Auftaktveranstaltung und auf der Demo wurden wir häufiger von Radio-, Fernseh- und Nachrichtenagentur-Teams interviewt. Warum sind wir hier? Was wollen wir? Usw.

Noch während der allgemeinen Sammlung auf einmal Polizeiautos mit Blaulicht und dahinter ein Demonstrationszug. Wer ist das denn?, frage ich völlig irritiert. Es ist die PAME, die Gewerkschaft der KKE, die in einem geschlossenen Block, Fahnen schwenkend und Parolen rufend, mitten durch die sich sammelnden KollegInnen marschiert. Weder sprechen die PAME-MarschiererInnen die anderen an noch umgekehrt. Letzte Woche noch waren mehrere KKE-Mitglieder von Mitgliedern der Goldenen Morgenröte krankenhausreif geschlagen worden, einen Tag später war ein Mitglied einer anderen linken Gruppe ermordet worden und nun diese geradezu provokative Demonstration der Trennung. Wir sehen uns wieder im KZ! Ein unglaublich gespenstischer Vorgang, bei dem mir halber schlecht wird. Die griechischen KollegInnen kümmern sich nicht weiter darum, sie kennen das. Der PAME-Zug mit etwa 1000 TeilnehmerInnen marschiert Richtung Syntagma, um eine eigene Kundgebung abzuhalten.

Danach kommt noch ein weiterer großer Demozug von den Finanzangestellten, die sich aber unserer Demo anschlossen.

Die Auftaktkundgebung beginnt dann mit mehreren Rednern, denen aber nur wenige zuhören und die auch kaum Beifall bekommen. Es scheint nichts Neues oder Spannendes dabei zu sein.

Zum Schluss gehe ich auf die Tribüne und überbringe –unautorisiert!- die Grüße der GEW. Ich weise darauf hin, dass gerade in Berlin ein Lehrerstreik stattfindet für gleiche Bezahlung und dass in Deutschland die LehrerInnen seit Jahren mit Sparmaßnahmen im Bildungsbereich konfrontiert sind, so dass es eine gewisse Parallele gibt. Dann erzähle ich noch, dass wir am Sonntag an dem Ort waren, wo Pavlos Fissas ermordet wurde und dass in Berlin vor einiger Zeit auch ein junger Mann von Neonazis ermordet worden war. Ich erwähne den NSU-Prozess, in dem es um eine Neonazi-Mördergruppe geht, die vom deutschen Geheimdienst geschützt und finanziert wurde. Danai übersetzt offensichtlich so gut, dass ich am Schluss einigen Beifall bekomme.

Dann ging die Demo los über den Syntagma-Platz zum Infrastrukturministerium, das für die Entlassungen zuständig ist. Dort hat die Polizei eine riesige Sperre aufgebaut, um den Staat zu schützen. Insgesamt ist das Polizeiaufgebot, das nur gegen Ende sichtbar wird, aber relativ gering. Eine Abschlusskundgebung gibt es anscheinend nicht, irgendwann löst sich alles auf.

Die Demo wirkt rechtgroß, die Veranstalter schwanken zwischen 10 und 15 tausend, ich würde eher 5-7tausend sagen, aber egal. Von der Größe her war die Demo ordentlich, obwohl mir die Stimmung nicht so vorkam, dass die ausgegebene Parole „Sturz der Regierung!“ besonders bekräftigt wurde. Eher eine etwas fröhlichere Latschdemo.

Bei ADEDY

Danach gehen wir mit Vassia und Nikos zum Gebäude von ADEDY, dem Dachverband für den Öffentlichen Dienst. Im Keller ist ein großer Konferenzraum, der ganz kalt ist, so dass wir allmählich ins Schlottern geraten. Es sind mehrere Vertreter der ADEDY gekommen aus dem Vorstand, die uns begrüßen. Der Vorsitzende hält eine völlig phrasengefüllte Rede ohne jeden Inhalt, meint, die Akropolis verbinde uns, und verschwindet dann. Dann atmen alle auf, und meinen, jetzt seien sie nur noch Linke – der Vorsitzende ist von der PASOK. Die nächsten gehen konkreter auf die aktuelle Situation ein, wobei sie die Folgen der Einsparungen und Entlassungen schildern. So erzählt ein Vertreter der Gewerkschaft für die Universitätsbeschäftigten, dass nach der Umsetzung der angekündigten Maßnahmen die Unis nicht mehr öffentlich und auch gar keine Unis mehr sein werden. So würden an der TU Athen, die weltweit einen sehr guten Standard hat, die Bedingungen durch Abbau von Laborangestellten etc. kaum noch einen akademischen Standard ermöglichen.

Ein Vertreter der Krankenhäuser berichtet, dass 30% aller öffentlichen Krankenhäuser geschlossen werden, immer mehr Menschen keinen Zugang mehr zum Sozial- und Gesundheitswesen mehr haben. Auch hier gehen 1600 KollegInnen in die „Reserve“.

Sie meinen, dass sie innerhalb des Troika-Programms keine Chance haben. Sie plädieren für Streichung der griechischen Staatsschulden, Unterstützung des produktiven Sektors mit öffentlichen Investitionen und die Verstaatlichung der Banken. (Das sind auch die Forderungen von Syriza.)

Ein weiterer schildert die Pläne für die kommunalen Versorgungsbetriebe. Der deutsche Beauftragte für die Troika in Athen, ein Herr Fuchtel, von den Griechen „Herr Fuchtelos“ genannt, möchte diese Betriebe privatisieren, was weitere 6000 Beschäftigte in die „Reserve“ bringen würde. Außerdem würden dann die Dienstleistungen für die Bürger teurer. Herr Fuchtelos möchte, dass die Kommunen bei der Müllabfuhr z.B. deutsche Betriebe beauftragen, da die ja so viel Expertise in Recycling usw. hätten…

Andi bedankt sich und weist auf die Schwierigkeit hin in den deutschen Gewerkschaften über diese Situation aufzuklären, da die Führungen zwar sich verbal solidarisch zeigen, aber praktisch die Troika-Politik unterstützen. Z.B. haben deren Abgeordnete im Bundestag dieser Politik zugestimmt.

Wir fragen nach, inwiefern sie die heutige Demonstration als einen  Schritt zum Regierungssturz begreifen, da die Demo ja weder gewaltig noch besonders kämpferisch war (angesichts von 150 000 Staatsbeschäftigten in Athen sind 10 000 TeilnehmerInnen ja nicht soooo viel). Sie betonen, dass es ein Fortschritt sei, dass jetzt nicht mehr Partikularinteressen im Vordergrund stünden, sondern zunehmend die Einsicht Platz greife, dass man gemeinsam gegen die Regierungspolitik, insbesondere die bevorstehenden Entlassungen, kämpfen müsse. In der Vergangenheit hätte jede Berufsgruppe für sich gekämpft, wie z.B. in der Vergangenheit die Beschäftigten der Metro, der Fähren, die Lehrer. Es sei also ein Fortschritt, dass heute der Öffentliche Dienst gemeinsam gestreikt und demonstriert habe.

Insgesamt wird deutlich, dass es ihnen natürlich um die Entlassungen geht. Aber in ihren Berichten wird, anders als in den deutschen Medien dargestellt, wo vom „aufgeblähten Staatsapparat“ die Rede ist, deutlich, dass eben nicht einfach entlassen wird, sondern dass damit die öffentlich Infrastruktur, die öffentliche Versorgung zerschlagen wird. Letztes Jahr hatten wir angesichts der wirtschaftlichen Misere und der Lohnkürzungen davon gesprochen, dass Griechenland in die Dritte Welt gestoßen wird. Jetzt sehen wir, wie Dritte Welt-Zustände hergestellt werden, in denen es keine funktionierende staatliche Vorsorge, kein ausreichendes Bildungssystem, keine öffentliche Gesundheitsversorgung gibt.

Auf Nachfrage sagen sie, dass der Dachverband für die Privatwirtschaft, GSEE, nicht zum Streik aufgerufen hat, weil dessen Führung zum Regierungsblock aus ND und PASOK gehöre. Sie hätten aber den Anspruch mit den betrieblichen Basisgewerkschaften zusammen zu arbeiten.

Ein Problem sei auch die PAME mit ihren isolierten Aktionen. Das sei ein großes Problem, weil es die Einheit schwäche. Sie kann nur ihre Mitglieder mobilisieren, das sind aber in einigen Bereichen des privaten Sektors nicht unerhebliche Teile. Sie versuchen auf die PAME-Mitglieder einzuwirken, dass sie sich am gemeinsamen Kampf beteiligen.

Als wir aus dem Keller wieder hochkommen, wärmen wir uns an der athenischen Sonne und an dem Essen, zu dem wir eingeladen werden.

 (Manfred)

Dienstagnachmittag 24.9.
Die Zeitung der Redakteure Teil I

Ein paar Tische, ein paar Stühle in einem sonst kahlen Raum im Stadtzentrum von Athen und der unbeugsame Wille, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Das war alles, was wir damals vorfanden, als wir ziemlich skeptisch den Leuten zuhörten, die bei der früheren „Elephterotypia“ beschäftigt waren und nun ihre eigene Zeitung machen wollten. Das war vor einem Jahr. Umso erfreuter sind wir über das Bild, das sich uns heute, im September 2013, bietet: Ein emsiges, für Außenstehende kaum überschaubares Treiben herrscht in den gleichen Räumlichkeiten, die beim ersten Besuch noch wie ausgestorben wirkten. Ein Bildschirmarbeitsplatz reiht sich an den andern, die Menschen, die konzentriert daran arbeiten, schauen auf, wenn sie sich von uns beobachtet fühlen, und grüßen freundlich. Man spürt sogleich das angenehme Klima, das sie bei ihrer Arbeit beflügelt.

Neben dem Eingang liegt ein Stapel der heutigen Ausgabe. „Η Εφημερίδα“ (DIE ZEITUNG) steht in grossen, schwarzen Lettern und darunter etwas kleiner in Rot „των Συντακτών“ (DER REDAKTEURE), links davon drei spitze, rote Federn. Das ist der Kopf dieser Zeitung, die seit November des letzten Jahres in einer Auflage von 10’000 Exemplaren – 15’000 die Wochenendausgabe – gedruckt wird und an allen Kiosken für 1.30 Euro zu haben ist. Jede Ausgabe der „Zeitung der Redakteure“ umfasst 56 Seiten, die von zurzeit insgesamt 120 Personen hergestellt werden. „Wir zahlen den gewerkschaftlichen Mindestlohn“, sagt Babis, der uns auch vor einem Jahr das Projekt vorgestellt hatte. Für die jungen Leute gehe das gut, für die Älteren mit Familie sei es schon etwas hart. Immerhin werden die Löhne ausgezahlt, was ist in Griechenland keine Selbstverständlichkeit mehr ist, und zwar ebenso pünktlich wie auch die Sozialversicherungsbeiträge und die Steuern abgeliefert werden. Der Regierung soll kein Vorwand geboten werden, um gegen die unbequeme Zeitung vorgehen zu können. Dass das kleine, unabhängige Blatt in einer Medienlandschaft, die von den wirtschaftlich Mächtigen beherrscht wird, nicht allen gefällt, versteht sich von selbst. „Wir sind völlig unabhängig und das ist das Wichtigste“, erklärt Babis nicht ohne Stolz.

 Die wichtigsten Artikel sind auch im Internet abrufbar (www.efsyn.gr). Geplant sind einzelne Übersetzungen in andere europäische Sprachen. So könnte die „Zeitung der Redakteure“ zu einem europäischen Projekt werden. Zu diesem Zweck sollen in einigen Monaten neue Anteilscheine zu 1000 Euro gezeichnet werden – vor einem Jahr hatten auch wir uns aus den gesammelten Spendengeldern mit einem Anteilschein beteiligt. 51 Prozent werden stets von den Redakteuren und den andern Mitarbeitenden gehalten, damit die Zeitung auch tatsächlich in den Händen derer bleibt, die sie herstellen. Die „Zeitung der Redakteure“ ist ein selbstverwalteter Betrieb, ohne Chefredaktion und klare Hierarchie. Der Inhalt der Zeitung wird gemeinsam entschieden. „In der ersten Zeit dauerten die Redaktionssitzungen bis morgens um vier Uhr“, erzählt Babis, „jetzt sind wir jeweils um Mitternacht zu Ende.“

 Bisher von der internationalen Öffentlichkeit noch kaum wahrgenommen, hat die „Zeitung der Redakteure“ – genau gleich wie Vio.Me in Thessaloniki (www.viome.org) – eine große Symbolkraft und ist nicht nur für die Betroffenen eine echte Alternative zu Arbeitslosigkeit und sozialem Absturz. Die beiden Betriebe in ganz unterschiedlichen Bereichen zeigen, dass es nicht zu Ende ist, wenn die alten Besitzer nicht mehr können. Es kommt auch darauf an, wie jene, die dort arbeiten, sich dazu stellen – und vor allem, ob noch ganz viele andere ihrem Beispiel folgen.

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