Geheime Grexit-Expertise der EU


Von Ralf Kliche (zuerst erschienen auf griechenlandsoli.com)

Noch heute landen Diskussionen über Griechenland oft wieder bei den „Was-wäre-gewesen-wenn“-Szenarien der Ereignisse von 2015. Über den ominösen „Plan B“ von Varoufakis für ein mögliches Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone wurde einiges geschrieben, jetzt wirft ein gerade erschienenes Buch einen Blick auf die Analysen und Szenarien, die man sich in der EU über den Grexit gemacht hat. Die beiden Journalistinnen Eleni Varvitsioti und Viktoria Dendrinou haben gerade unter dem Namen „Der letzte Bluff“ ein umfangreiches Buch veröffentlicht, das die geheimen Analysen und Planungen der EU / EZB vorstellt. Das Buch wird auf Englisch und Griechisch veröffentlicht. (1) Dendrinou arbeitet für Bloomberg und Varvitsioti schreibt für Kathimerini und so ist es auch nicht überraschend, dass sich dort ähnliche und relativ detaillierte Besprechungen finden. (2)
Lesenswert dürfte das Buch nicht machen, dass dort völlig neue Sichtweisen und Vorschläge enthüllt werden. Manche dürften durchaus ähnliche Überlegungen darüber angestellt haben, was und wie in den „wissenschaftlichen“ Schaltzentralen der EU zum Grexit gedacht wurde. Seine Bedeutung resultiert eher daraus, dass trotz versuchter Geheimhaltung die Sicht in der EU jetzt schwarz auf weiß nachlesbar ist. Allerdings ist auch Vorsicht angebracht: Die Einschätzungen der beteiligten EU-Experten sind nicht schon deshalb wahr, weil sie aus der EU kommen und verborgen bleiben sollten. Die Ökonomen dort müssen logischerweise im Rahmen der Denkmodelle verbleiben, die sie zu kompetenten Vertretern neoliberaler Austeritätspolitik machen.

Grundlage des Buches ist ein ca. 150 Seiten umfassender Geheimplan der Kreditgeber, wie ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone behandelt werden sollte, welche Maßnahmen die EU im Rahmen der Einführung einer „neuen Drachme“ ergreifen sollte. Auch der Umgang der EU mit der erwarteten humanitären Krise bei einem Grexit wird angesprochen.

Gleich am Anfang steht ein überraschender Aspekt: Offensichtlich war der Grexit kein europäisches / deutsches Szenario, das gezielt aus politischer Perspektive für den Sturz der neuen Regierung Tsipras entwickelt wurde. Vielmehr wurde ein entsprechendes Szenario bereits 2012 von einer kleinen Gruppe hochrangiger Vertreter der EU und des IWF entworfen. Zur Geheimhaltung wurden Treffen und erstellte Dokumente mit dem Decknamen „Kroatiens Beitritt zur Europäischen Union“ versehen. Als dann im Februar 2015 die alten Pläne wieder aus der Schublade geholt wurden, um gegen die Syriza-Regierung vorzugehen, nannte man sie um in „Albanien: Analyse- und Notfallplan, mögliche Insolvenz 2015“ – Kroatien war inzwischen Mitgliedsland der EU. Die Pläne wurden dann weiter entwickelt bis zur Unterschrift Griechenlands unter das 3. Memorandum.

Die 10 Verfasser des Dokuments – Ökonomen und Anwälte – trafen sich nur dreimal: einmal bei der EZB und zweimal in Brüssel, sie gliederten ihr Ergebnis in 4 Kapitel.

1. Kapitel 1 „Direkte Folgen der Nichtzahlung“ beschreibt, wie sich der Konkurs entwickeln würde, welche Auswirkungen er auf die griechische Wirtschaft haben und wie er zum Austritt aus dem Euro führen würde. Dabei waren sich die Verfasser anscheinend unsicher, ob ein Verbleib in der EU bei einem Austritt aus der Eurozone möglich ist. Schließlich scheinen sie das für möglich gehalten zu habern.
2. Kapitel 2 „Output Management“ befasst sich mit den Folgen eines Grexits für die Eurozone und Griechenland. Danach wäre in absoluten Zahlen Deutschland am stärksten von einem Zahlungsausfall betroffen gewesen (92,8 Mrd. Euro), relativ hätte Slowenien die größten Ausfälle tragen müssen (1,7 Mrd. Euro, 3,4% des BIP). Angesichts dieser Zahlen schienen den Verfassern die Grexit-Folgen überschaubar und kein Gegenargument gegen eine solche Strategie. Damit widersprachen sie der griechischen Argumentation, die aus dieser Annahme heraus ein Entgegenkommen der EU prognostizierte.
3. Kapitel 3 „Aktionsplan“ geht der Frage nach, ob ein Verbleib Griechenlands in der Eurozone bei einem Staatsbankrott möglich sei. Antwort: So gut wie unmöglich.
4. Kapitel 4 „Restriktive Maßnahmen und Kapitalkontrollen“ befasst sich mit möglichen Reaktionen der EU auf eine neue Währung, die Griechenland nach einem selbst erklärten Austritt aus dem Euro hätte einführen müssen. Ziel war es offensichtlich, zumindest einen völligen Zusammenbruch des griechischen Bankensystems zu verhindern. Die Experten rechneten mit der langen Zeitspanne von 8 bis 9 Monaten für die Einführung einer Ersatzwährung zur Bargeldabwicklung und einer sofortigen Abwertung der neuen Währung um ca. 50%. In ihren Vorstellungen war dies sofort mit der Verdopplung der in Euro geführten Schulden verbunden. Sie scheinen den Fall einer Nicht-Anerkenntnis dieser Schulden, einer Zahlungsverweigerung Griechenlands, nicht näher betrachtet zu haben. In ihrem Horizont gab es am Ende immer nur ein neues Memorandum. Sonst müsse man halt klagen…

Genaue Überlegungen scheint man indessen darüber angestellt zu haben, wie verhindert werden kann, dass die griechische Regierung ihre Ressourcen zur Herstellung eigener Euro-Noten nutzt. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit eines solchen „illegalen“ Handelns als gering angesehen wurde: Die EZB sollte Lieferanten untersagen, erforderliche Materialien zur Geldproduktion nach Griechenland zu liefern und es sollte sichergestellt werden, dass vorhandene Materialien sofort zerstört werden. Und wenn die Bank von Griechenland den Zugang verweigert hätte???

Die Themen- und Fragestellung lässt das Buch als lesenswert erscheinen. Ob die Erwartungen eingelöst werden, kann erst nach seiner Lektüre beantwortet werden. Vielleicht findet sich ja ein Leser, der hier zu gegebener Zeit eine Beurteilung abgeben möchte.

Und Varoufakis?

Unterdessen hat sich auch Varoufakis noch einmal zur Frage des „Plan B“ zu Wort gemeldet. Am 17. Juni stellte er bei ThePressProject einen Vergleich seiner Ideen mit den Vorschlägen an, mit denen sich Italien gegen den Druck der EU zur Durchsetzung einer Austeritätspolitik wehren möchte. (3) Im Mai wurde im italienischen Parlament beschlossen, dass der Staat seine Schulden gegenüber Unternehmen auf dem Binnenmarkt, mit so genannten Mini-Bots begleichen kann. Das sind praktisch italienische Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit. Durch ihre Stückelung bis hinunter zu 5 Euro kann ihre Ausgabe als faktische Einführung einer begrenzten Parallelwährung angesehen werden, weil diese Mini-Bots wie Geld zirkulieren könnten, insbesondere auch, weil sie zur Begleichung von Steuerschulden der Bürger beim Staat dienen können. (4)

Varoufakis sieht klare Gemeinsamkeiten dieses Ansatzes mit seinem Vorschlag, staatliche Zahlungen an Bürger und Steuerzahlungen an den Staat über Schattenkonten abzuwickeln. (5) Für ihn ist das ein legitimer Versuch zur Wiederherstellung von Liquidität in der Binnenwirtschaft. Er meint auch, dass das Verfahren im Unterschied zum einem Euro-Austritt oder einer umfassenden Parallelwährung nicht zu starken Abwertungen führen würde. Da der Euro die einzige Währung des Landes bliebe, würden zudem keine Regularien der Eurozone verletzt. Solche Szenarien scheinen in dem nun veröffentlichten Bericht der EU nicht betrachtet worden zu sein. Das wäre ein Beleg gegen Phantasie und Sachverstand seiner Verfasser.

Da Varoufakis als „überzeugter Europäer“ aber keine Maßnahme der italienischen Regierung gutheißen kann, muss er denn auch die Unterschiede der beiden Konzepte hervorheben. Er sieht die Unterschiede vor allem in der Motivation. Sein Artikel beginnt mit den Worten: „Es ist ein seltsames Gefühl, wenn du siehst, wie dein Plan dazu genutzt wird, genau das Gegenteil von dem zu tun, was du wolltest.“ Er endet: „Der wirkliche Unterschied zwischen dem italienischen und meinem eigenen Projekt ist jedoch ein politischer. Mein eigenes paralleles Zahlungssystem sollte niedrigere Ausstiegskosten aus der Eurozone bewirken, um einen neuen öffentlichen Raum zu schaffen und so zur Optimierung der Währungsunion beizutragen. Im Gegensatz dazu ist der italienische Ansatz der erste Schritt in Richtung einer Parallelwährung, die das Ende der Eurozone bringen wird.

Einmal davon abgesehen, dass mit dem Verhalten Italiens noch lange nicht das Ende der Eurozone sicher ist, bleibt es das Geheimnis von Varoufakis, wie die unterschiedlichen politischen Wünsche der Protagonisten eines Systems auf die Auswirkungen seiner ökonomische Logik durchschlagen sollen. (6)

Quellen / Anmerkungen:
(1) https://www.amazon.com/Last-Bluff-financial-free-fall-top-secret-ebook/dp/B07SXCRNZB ,
https://www.epbooks.gr/product/101876/η-τελευταια-μπλοφα-το-παρασκηνιο-του-2015,-οι-συγκρουσεισ,-το-plan-b
(2) https://www.bloomberg.com/news/articles/2019-06-14/the-eu-had-to-plan-for-worst-when-greece-almost-ran-out-of-money
http://www.kathimerini.gr/1029249/gallery/epikairothta/politikh/to-mystiko-sxedio-vgia-to-grexit
(3) https://www.thepressproject.gr/article/142204/To-parallilo-sustima-pliromon-mporei-na-sosei-i-na-katastrepsei-to-euro
(4) siehe z.B. https://www.faz.net/aktuell/finanzen/euro-austritt-italien-diskutiert-ueber-ersatzwaehrung-mini-bots-16230200.html ,, https://www.handelsblatt.com/politik/international/euro-ersatz-mini-bots-europa-hat-angst-vor-italiens-parallelwaehrung/24453490.html?ticket=ST-4189453-KduXilYWyFG72PZavUHd-ap5
(5) https://www.zeit.de/wirtschaft/2015-07/griechenland-plan-b-grexit-varoufakis-tsipras
(6) Außer: Man macht die unterschiedliche ökonomische Relevanz der beiden Länder zum Unterschied des Ganzen. Davon ist bei Varoufakis aber keine Rede.


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