SYRIZA: Sozialdemokratisierung noch zu verhindern?

Von Ralf Kliche (der Beitrag erschien zuerst auf griechenlandsoli.com)

Nach den enttäuschenden Ergebnissen für SYRIZA bei den Parlamentswahlen steht die Partei vor der Frage nach der strategischen Bewertung dieser Ergebnisse und den Schlussfolgerungen für das eigene Selbstverständnis und die zukünftige Perspektive.Die Richtung gab Tsipras vor, als er in der ersten Sitzung des Zentralkomitees nach den Wahlen am 13.07.2019 radikale Veränderungen in der Partei forderte. (1) Er beklagte den elitären Charakter der Partei, die zwar 32% der Stimmen aus der Bevölkerung bekommen habe, in der aber nur 3% der Bevölkerung organisiert seien. Deshalb müsse SYRIZA zu einer neuen, offenen Partei umgebaut werden. Im Einzelnen forderte er:

  • SYRIZA muss zu einer Massenpartei werden – mindestens 10% der Wähler müssen Parteimitglieder sein.
  • SYRIZA muss zu einer jungen Partei werden, angesichts eines Bevölkerungsanteils der 17-24 jährigen von 38% ist es nicht akzeptabel, dass die Partei keine eigene Jugendorganisation hat (die ehemalige Jugendorganisation war nach zahlreichen Parteiaustritten wegen der Politik des Jahres 2015 aufgelöst worden – RK).
  • SYRIZA muss zu einer Volkspartei werden, angesichts der Bedeutung der Partei in vielen Stadtvierteln müssen dort überall Massenorganisationen und Parteibüros sein
  • SYRIZA muss eine Partei mit starker Identität sein, mit einer Vision und dem Ziel eines Sozialismus mit Freiheit und Demokratie und mit der Beseitigung von Unterdrückung von Menschen durch Menschen.
  • SYRIZA muss eine linke Partei sein, nicht mit Worten sondern in der Praxis. Eine Linke, die die Unterprivilegierten verteidigt und schwierigen Problemen nicht ausweicht.
  • SYRIZA muss eine grüne Partei sein, mit einer starken Umweltidentität. Mit einem Programm zur ökologischen Transformation der Wirtschaft.

Ziel sei eine Basis von 170.000 Mitgliedern. Die Umgestaltung der Partei soll Gegenstand eines großen Kongresses werden, der um den Jahreswechsel 2019/2020 stattfinden soll. Offensichtlich soll die im Rahmen des Wahlkampfes ins Leben gerufene Organisation „Progressive Allianz“ nicht wieder abgeschafft werden sondern am Neugründungsprozess der Partei teilnehmen. (2)

Der von diesen Ankündigungen ausgelöste Diskussionprozess wird von der Zeitschrift der Redakteure EFSYN begleitet, vorangetrieben und moderiert. Das kritische Nachfolgeblatt der Eleftherotypia hatte in der letzten Zeit viel seiner kritischen Distanz zur Regierungspartei aufgegeben und so ist die Einbindung der Tageszeitung nicht erstaunlich. Ihre Fragestellung lautet: „Wie wird sich die Linke und die linke Mitte in der neuen Zeit nach den Memoranden entwickeln? Was sind ihre Merkmale und ihre gesellschaftlichen Bezüge?… Die großen Fragen der Linken und der linken Mitte sind auch für alle fortschrittlichen Kräfte in Europa ein Thema. Die große Frage ist, welche Strategie die Linke und die linke Mitte heute und morgen in Griechenland und Europa entwickeln soll, um die Gegenwart und Zukunft zu planen und zu gestalten.“ (3)

Der erste Artikel in diesem Zusammenhang erschien am 13.07.2019, ein Interview mit Nikos Pappas. (3) Der ehemalige Minister und Mitglied im Zentralkomitee der Partei ist vielen aus der Lektüre des Varoufakis-Buches als enger Vertrauter von Tsipras bekannt. Tsipras selbst hatte bereits vor den Wahlen erkennen lassen, dass er vor allem Wähler der linken Mitte für SYRIZA gewinnen wollte. Im Zentrum des Wahlkampfes stand weniger die Rückbesinnung auf alte Forderungen, die man jetzt nach Ende des Memorandums wieder aufgreifen könne oder müsse, sondern der Fokus lag auf der Öffnung der Partei zu einer „Sammlungsbewegung aller fortschrittlichen Kräfte“, der oben genannten „Progressiven Allianz“ . Insgeheim erhofften sich manche, auf diesem Wege in KINAL, der ehemaligen PASOK, einen möglichen Koalitionspartner für die Fortsetzung der Regierungsarbeit zu finden. Daraus wurde dann aufgrund der Wahlergebnisse bekanntlich nichts.

Jetzt bestätigt das Interview mit Pappas, dass diese Orientierung zur generellen Strategie der Partei werden soll. Er sieht als Aufgabe von SYRIZA, die „Rolle eines Katalysators bei der Koordinierung der fortschrittlichen Kräfte innerhalb und außerhalb des Parlaments zu übernehmen“. Darunter versteht er allerdings nicht, jene Teile der Linken zurückzugewinnen, die sich aufgrund der Umsetzungspolitik für die Troika von der Partei abgewandt haben. Vielmehr will er die von ihm eingeräumte Distanz der Partei zur Gesellschaft dadurch angehen, dass SYRIZA für alle offen sein soll, die „gegen den Abbau des Sozialstaats“ sind. Auf einen möglichen „ideologischen Niedergang“ angesprochen, antwortet Pappas: „Ich denke, es besteht die Gefahr einer ideologischen und politischen Verengung, wenn wir eine kleine Partei aus organisierten Kräften bleiben. Wir haben auf verschiedene Weise dafür bezahlt, dass wir der Gesellschaft nicht so viel zugehört haben, wie wir sollten. Um unseren Ideen, unseren Visionen und unseren politischen Koordinaten treu zu bleiben, müssen wir die Partei öffnen. … Ziel ist es, SYRIZA zu verändern, von einer kleiner Partei mit organisierter Basis, zu einer großen Partei, die die linken, fortschrittlichen und demokratischen Gruppierungen in Griechenland unter der Vorherrschaft der Ideen der Linken zum Ausdruck bringt.“ Dabei wehrt er auch die Kritik ab, dass diese Öffnung von SYRIZA in der Vergangenheit auch die Kooperation mit Politikern des rechten Lagers beinhaltete: „Warum sollten wir nicht mit einigen Leute von einer gemäßigten Mitte-Rechts-Partei zusammenarbeiten, die dem Neoliberalismus widerstehen wollen, der alles wegzureißen droht, was vom Sozialstaat übrig geblieben ist,? Also frage ich vernünftigerweise: Können solche Leute nicht mit uns arbeiten? … Die Leute, die sich entschieden haben, Panos Kammenos nicht zu folgen und uns natürlich unterstützten und zu uns gekommen sind, warum sollen wir sie zurückweisen? Wie auch immer, für uns steht eine fortschrittliche Welt immer an erster Stelle.“

Die Strategie der Öffnung von SYRIZA ist in der Partei nicht unumstritten. Schon am 05.07., also noch kurz vor den Wahlen, hatte der ehemalige Minister Nikos Filis, der als Parteilinker gilt, der EFSYN ein Interview gegeben, das unter folgendem Titel veröffentlicht wurde: „Unsere linke Identität ist der Kern unserer politischen Existenz“ (4) Dort unterstützt er zwar auch das Ziel der von Tsipras postulierten „progressiven Allianz“. fordert aber eine starke linke Identität als Basis dieser Verbreiterung. „Wir können das nicht anders machen. Wir können keine Partei der Opportunitäten werden. Wir können uns nicht in einen Brei zentraler Gemeinsamkeiten auflösen. Unsere linke Identität ist der Kern unserer politischen Existenz und der entscheidende Faktor im Kampf gegen das Wiedererstarken der Rechten. … Wir werden diese Identität als führende im Bewusstsein der Gesellschaft und Nation erhalten, indem wir versuchen, eine große soziale und politische Allianz zu bilden, die vielstimmig und gleichgewichtig einen progressiven Raum besetzt.“

Ähnlich äußerte sich Panos Skourletis in seinem Interview mit der Zeitung am 27.07. Der aktuelle Generalsekretär der Partei und ehemalige Minister äußerte sich unter der Überschrift „SYRIZA sollte keine Mitte-Links-Partei werden.“ (5) Er formuliert, dass SYRIZA „eine moderne pluralistische linke Identität bilden muss, aber auf jeden Fall ein linke. …. SYRIZA muss eine Sozialdemokratisierung vermeiden, wo sich doch das Spektrum der Sozialdemokratie in fast ganz Europa in einer tiefen Orientierungs- und Strategiekrise befindet. … Sie muss dem Charme einer konventionellen Opposition widerstehen, die sich besonnen und volksnah präsentiert aber keine programmatischen Vorschläge formuliert. Zugleich muss sie die Leerstellen schließen, die zwischen den Auftritten auf der zentralen politischen Bühne und der fehlenden Präsenz in verschiedenen sozialen Räumen (Verbände, Gewerkschaften, Kommunalverwaltung) bestehen.“ Gleichzeitig wehrt sich Skourletis gegen Vorhaltungen, SYRIZA habe sich in der Vergangenheit zu sehr gegen Einflüsse von außen abgeschottet, und behauptet, es habe in der letzten Zeit eine „spürbare Zunahme unserer organisierten Mitglieder im ganzen Land“ gegeben. „SYRIZA war nie eine randständige Partei. Ihre strategische Analyse und Herangehensweise an die Dinge war nie die einer Partei des Randes. Dies war schon bei ihrem Vorläufer Synaspismos so und bei deren Vorgänger, der Kommunistischen Partei Inland, der Erneuerung der KKE.“ Zum Ende des Gesprächs greift er die antikapitalistische Tradition der Partei noch einmal auf und meint, sie mit den ‚pluralistischen modernen Bewegungen‘ versöhnen zu können: „Ich würde sagen, dass SYRIZA in ihrer ideologischen Identität ihre antikapitalistischen Perspektiven bewahren muss, die ferne Überwindung des kapitalistischen Systems. Ich spreche nicht von Aufstand, ich spreche von Überwindung nach aufeinanderfolgenden Brüchen. Dies ist auch das Erbe des demokratischen Kommunismus, des Eurokommunismus. Und dies kann durch Allianzen und Interventionen geschehen. … Wir werden die Bedingungen einer neuen pluralistischen Linken unserer Zeit gestalten, die neben der Frage der antikapitalistischen Perspektive auch die Autonomie der Demokratie und den anhaltenden Kampf um ihre Ausweitung in allen Bereichen des sozialen und politischen Lebens aufnehmen muss. Im gleichen Kontext steht auch die kollektive Entscheidungsfindung hinsichtlich eines neuen ökologischen, radikalen Ansatzes. Angesichts der Klimakrise, in der wir infolge des Klimawandels leben, halte ich das für den tiefgreifendsten und radikalsten Blick auf den modernen neoliberalen Kapitalismus.“

Noch ist nicht absehbar, ob die hier vorgestellten Beschwörungen der antikapitalistischen Vergangenheit in der Partei nur Rückzugsgefechte der Parteilinken gegenüber der allgemein akzeptierten Öffnungsstrategie sind, ob es sich um Verbalradikalismus oder um attraktive und funktionierende Optionen für die außerparlamentarische Linke handelt. Entscheidend wird die Reaktion dieser Gruppierungen sein, die sich infolge der Regierungspolitik von SYRIZA abgewandt haben. Wenn gleichzeitig Ende Juli der ehemalige Minister Georgios Katrougalos in einem Radiointerview die Öffnung der Partei bis an den Rand der konservativen Partei fordert und sich dabei auf Tsipras beruft, dürfte das die Attraktivität von SYRIZA für die Linken nicht stärken (6): „“Wir sind uns alle einig, dass die neue SYRIZA nicht nur den Pluralismus der Linken zum Ausdruck bringen muss, sondern die Summe des gesamten demokratischen Spektrums, einschließlich des demokratischen Zentrums, bis an den Rand der konservativen Fraktion.“ SYRIZA „muss in eine moderne linke Partei mit den Merkmalen verwandelt werden, die Alexis Tsipras auf der jüngsten Sitzung des Zentralkomitees beschrieben hat: Sie muss eine jugendliche, grüne Partei werden, ein Ausdruck aller fortschrittlichen Fraktionen.“

Wer erleben konnte, wie sich Katja Kipping im Sommerinterview des Deutschen Fernsehens um jede Verwendung des Begriffs „Sozialismus“ herumgewunden hat, wird an der griechischen Diskussion auffallen, dass sich SYRIZA zumindest verbal als linke Partei mit sozialistischen Zielen noch wohltuend von entscheidenden Gruppierungen der deutschen Linkspartei abhebt. Zugleich scheinen sich dort aber viele auf die gleiche Reise zu begeben. Irgendwann könnten sie so auch noch die Grünen mit der linksliberalen Variante des Neoliberalismus beerben. Erfolg macht sexy und irgendwie ist ja doch die Bundeswehr die größte Friedensbewegung auf deutschem Boden.

Quellen / Anmerkungen:

  1. https://www.sofokleousin.gr/o-syriza-allazei-ta-sxedia-tou-al-tsipra
  2. http://www.avgi.gr/article/10811/10054566/synedriasi-tou-syntonistikou-tes-proodeutikes-symmachias-me-symmetoche-tou-proedrou-tou-syriza-alexe-tsipra Dort findet sich auch die Liste der Teilnehmer des Koordinationskreises dies Gremiums
  3. https://www.efsyn.gr/stiles/ypografoyn/205151_dialogos-gia-tin-aristera-horis-ypokrisia
  4. https://www.efsyn.gr/politiki/synenteyxeis/202472_i-aristeri-mas-taytotita-einai-o-pyrinas-tis-politikis-mas-yparxis
  5. https://www.efsyn.gr/politiki/synenteyxeis/205248_o-syriza-den-tha-prepei-na-ginei-ena-komma-tis-kentroaristeras
  6. https://thepressproject.gr/o-katrougkalos-zita-anigma-tou-syriza-eos-tis-paryfes-tis-syntiritikis-parataxis/
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