Herren im fremden Haus. Griechenland: Abgründe von Demütigung – Berge von Schulden

von Gregor Kritidis, erschienen in Faktencheck Europa (Mai 2018)

„Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras wird nicht müde, die gute Nachricht zu verbreiten: Griechenland benötige ab Sommer keine neuen Kredite aus den Programmen der EU mehr. Im vergangenen Jahr gab es erstmals wieder ein Wirtschaftswachstum von 1,4 Prozent und einen Haushaltüberschuss vor Schuldendienst von 1,9 Milliarden Euro. Vor dem Hintergrund des einmaligen ökonomischen Einbruchs von mehr als 25 Prozent in der Periode 2010 bis 2015 handelt es sich hier um eine Stabilisierung auf tiefem Niveau.
Von einer realen Überwindung der Krise kann keine Rede sein. Nach wie vor befindet sich die Staatsverschuldung auf hohem Niveau. In absoluten Zahlen nahmen die Staatsschulden seit 2010 bei gleichzeitig sinkender Wirtschaftsleitung von 301 auf 326 Milliarden Euro zu. Mit der Konkurrenzfähigkeit, die vorgeblich durch die „innere Abwertung“ genannte Senkung von Löhnen und Sozialleistungen wiederhergestellt werden sollte, sieht es nicht besser aus als zu Beginn der Krise. Nach wie vor ist die Handelsbilanz negativ, d.h. es wird mehr importiert als exportiert. Die Investitionen liegen weiterhin weit unter Vorkrisenniveau. Gleiches gilt für das Konsumniveau, das auch 2017 sogar weiter gesunken ist. Die Arbeitslosenquote ist zwar von 27,6 % auf dem Höhepunkt 2013 auf 20,9 % 2017 gefallen. Doch diese Zahlen bringen jedoch kaum die Realität zum Ausdruck. So hat sich die traditionell hohe Zahl von Unterbeschäftigten seit Beginn der Krise auf 267.000 fast verdreifacht. Ebenfalls nicht berücksichtigt ist in den offiziellen Zahlen die Migration. Nach wie vor verlassen viele junge Menschen das Land. Schätzungen zufolge sind in den Jahren der Krise zwischen 175.000 und 550.000 junge Griechinnen und Griechen ausgewandert.

Aber auch diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Die zunehmende Entrechtung der abhängig Beschäftigten hat dazu geführt, dass der Bereich der grauen bzw. schwarzen Ökonomie sich rasant ausgeweitet hat. Viele Löhne liegen unter dem ohnehin nicht zum Leben ausreichenden gesetzlichen Mindestlohn. Gleichzeitig sind die unbezahlten Überstunden rasant angestiegen. Das geringe Wachstum basiert vor allem auf einer verschärften Ausbeutung. Die Gewinne der großen Unternehmen sind Schätzungen zufolge in den letzten Jahren um rund 50 Prozent gestiegen.

Um den Widerstand der abhängig Beschäftigten zu brechen, wurde auf Druck der Troika das Streikrecht weiter eingeschränkt. Seit Beginn des Jahres kann ein Streik erst dann ausgerufen werden, wenn mindestens 51 Prozent aller Gewerkschaftsmitglieder innerhalb eines Unternehmens zustimmen, zuvor lag diese Quote bei 30 Prozent. In einem Land, in dem die Justiz auf Betreiben der Unternehmer immer wieder Arbeitskämpfe als „missbräuchlich“ und damit illegal erklärt, stellt das eine erhebliche Einschränkung dar.

Der Erfolg der von den Gläubigern vorgegebenen und von der griechischen Regierung weitgehend ohne Protest umgesetzten Maßnahmen besteht vor allem in einer verstärkten Umverteilung. Der Schuldendienst wird durch Haushaltskürzungen und Steuererhöhungen aufgebracht. Dazu gehörte in der letzten Runde der Streichungen neben der Kürzung des Kindergeldes und der Renten eine weitere Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Kürzungen im Gesundheitsetat, die durch höhere Zahlungen der Krankenversicherungen ausgeglichen worden sind.

Da mit jedem neuen Gesetzespaket die steuerlichen Belastungen steigen und gleichzeitig die Realeinkommen immer weiter sinken, ist die innere Verschuldung massiv angestiegen. Immer mehr Kleinunternehmer und Bürger kommen ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Finanzämtern und den Sozialversicherungen, aber auch gegenüber Banken und anderen Unternehmen, nicht mehr nach. Die Zahl der Steuerschuldner hat sich in den letzten Jahren auf vier Millionen vervierfacht. Völlig unklar ist, wie viele dieser Schulden überhaupt noch eingetrieben werden können.

Ähnliches gilt für die sogenannten „rote Kredite“, den Schulden privater Gläubiger gegenüber Banken. Deren Summe – überwiegend handelt es sich dabei um Immobilienkredite – beträgt mittlerweile mehr als 100 Milliarden Euro. Diese „roten Kredite“ bergen einen erheblichen sozialen Sprengstoff, denn gut 70 Prozent der Menschen in Griechenland bewohnen ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung. Bisher waren selbstbewohnte Immobilien gesetzlich vor Zwangsversteigerungen geschützt. Diese Schutzbestimmungen wurden im letzten Jahr auf Druck der Troika abgeschafft.

Bisher ist es den Aktionskomitees gegen die Zwangsversteigerungen, die in den letzten zwei Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, meist gelungen, die entsprechenden Amtsgerichtsverfahren zu verhindern. Die Behinderung von Notaren und Richtern wurde daraufhin auf Geheiß der Troika kriminalisiert; dies ist nun mit Haftstrafen bedroht. Zudem wurden elektronische Verfahren zur Zwangsversteigerung eingeführt. Auch erfolgte eine Konzentration der Verfahren in Athen. Setzen sich Troika und Regierung durch, wird es in den nächsten Jahren eine gigantische Welle von Zwangsversteigerungen und Zwangsräumungen geben. Selbst für eine Steuerschuld von wenigen hundert Euro oder im Fall eines Zahlungsverzugs gegenüber der Bank von wenigen Monaten können nun Wohnungen unter den Hammer kommen.

Alle Behauptungen, die griechische Regierung sei ab Sommer 2018 wieder „Herr im eigenen Haus“, erweisen sich vor diesem Hintergrund als Zweckpropaganda. Sie werden aus berufenem Mund dementiert: Nach Aussage von Zentralbankchef Giannis Stournaras wird die Überwachung der EU solange erfolgen, bis 75 Prozent der öffentlichen Schulden abgelöst sind. Das wäre in 40 Jahren.

Gregor Kritidis hat in Hannover und Athen studiert und arbeitet in der Erwachsenenbildung in Magdeburg. Von ihm erschien 2014 die Aufsatzsammlung „Griechenland – auf dem Weg in den Maßnahmestaat?“ im Offizin-Verlag.

 
 
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