Peter Mertens, Präsident der Partei der Arbeit Belgiens – Eine Eurozone der Kolonialdiktate?

Peter Mertens, Präsident der Partei der Arbeit Belgiens (PTB/PVDA)
Eine Eurozone der Kolonialdiktate? Nicht in meinem Namen!
Internetprotal der PTB, 14. Juli 2015 (um Teile mit überwiegend belgischem Bezug gekürzt)
An diesem zweiten tristen Juli-Sonntag ist ein großer Teil der europäischen Zukunft festgelegt worden. Das deutsche Establishment hat gewonnen.

Am heutigen Montag bringen die Finanzkreise von Frankfurt ihre große Zufriedenheit zum Ausdruck.„Die Beschlüsse des längsten Gipfels der EU zur gesamten Verschuldungskrise in der Eurozone sind deutlich durch den deutschen Stempel markiert. Es scheint, dass Angela Merkel klar einen Sieg davon getragen hat“, schrieb an diesem Montagmorgen die deutsche Börsenzeitung
„Handelsblatt“ – auch wenn sie hinzufügt, dass „das griechische Problem weit davon entfernt ist, gelöst zu sein“.

Die Doppeltaktik hat funktioniert
Die Doppeltaktik hat funktioniert. Einerseits wurde der Rottweiler geschickt: der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble hat damit gedroht, Griechenland schonungslos aus derEurozone rauszuwerfen (der berühmte Grexit). Und andererseits konnte die Kanzlerin Angela Merkel diese Drohung benutzen, um die griechische Wirtschaft unter deutsche Aufsicht zu stellen und so die neue griechische Regierung einem kolonialen Diktat unterwerfen.
Der griechische Rechtsstaat hört de facto auf zu existieren
Berlin hat Athen gezwungen, auf seine letzten Reste von Selbstbestimmung zu verzichten. Jede Maßnahme, die Griechenland trifft, muss zuvor der Europäischen Union, der Europäischen Zentralbank und dem IWF vorgelegt werden. Und erst danach seinem eigenen Parlament und seiner eigenen Bevölkerung. Das ist wörtlich vorgeschrieben in dem europäischen Diktat: „Die [griechische] Regierung muss die Institutionen konsultieren und auf einigen wichtigen Gebieten deren Zustimmung erhalten zu jedem Gesetzesvorhaben (…), bevor sie dem [griechischen] Parlament oder einer Volksbefragung vorgelegt werden“. Das bedeutet nicht nur, dass Griechenland verpflichtet ist, Maßnahmen zu verwirklichen, die von einer großen Mehrheit der Griechen im Referendum abgelehnt worden sind, sondern auch und vor allem, dass jegliche eigenständige Politik ohne die Billigung Deutschlands nunmehr verboten ist.
Nicht ein einziges Gesetz kann abgestimmt werden ohne den Stempel aus Frankfurt. Mehr noch:
alle in den letzten fünf Monaten von der neuen griechischen Regierung ergriffenen Maßnahmen, bis hin zu und einschließlich der Wiedereröffnung des öffentlichen Senders ERT, sind mit einem Schlag gestrichen. Der griechische Rechtsstaat hört also de facto auf zu existieren.
Die Europäische Union hat nunmehr eine Neo-Kolonie in der Ägäis
Darüber hinaus muss das kleine Land an der Ägäis alles verkaufen, was für die großen Multis des Kontinents und von anderswo interessant sein könnte. Sein Wasser, seine Elektrizität, seine Häfen, seine Infrastruktur, seine Eisenbahnen…, alles muss meistbietend versteigert werden, ein Schild „Zu verkaufen“ unter dem Kinn, bei einem großen Privatisierungs-Ausverkauf. Das soll 50 Milliarden Euro einbringen, ein unsinniger Betrag, der bedeutet, dass Griechenland wahrscheinlich auch einige Inseln wird verkaufen müssen. Außerdem kann das Geld nicht für Investitionen benutzt werden; eine Hälfte davon ist dazu bestimmt, die ausländischen Gläubiger zu bezahlen, die andere dazu, die Banken zu rekapitalisieren. Jemanden dazu zu nötigen, das zu verkaufen, was für Konzerne mit Auslandskapital interessant ist, und das zu liquidieren, was den
gleichen Konzernen Konkurrenz machen könnte – das ist Kolonialpolitik. Griechenland wird nun eine Art von Neo-Kolonie in der Eurozone. Das ist ein neuer Status in einer Europäischen Union, die uns einst als ein Projekt des Friedens, des Fortschritts und der Solidarität verkauft worden ist. Statt einer Integrationswährung wird der Euro zu einer Währung der Erpressung und Ausgrenzung
Der Euro wird mehr und mehr ein Instrument der deutschen Hegemonie in Europa.

Dank ihrer Politik des Lohndumpings, von der rot-grünen Regierung Schröder-Fischer 2001 eingeführt, konnten die deutschen Exportunternehmen die Konkurrenz auf dem Kontinent niedermachen. Daswurde mit der Politik der Finanzhilfen der EU kombiniert, die so angelegt war, dass Länder wie Griechenland, Portugal und Spanien jahrelang „billige“ deutsche Produkte importieren konnten.
Resultat: diese Länder wurden in die Zange genommen. Zwischen 2002 und 2010 sind die bedeutendsten Kapitalflüsse von Athen, Lissabon und Madrid nach Berlin, Amsterdam und Brüssel geflossen. Als sich dann herausstellte, dass die griechischen Konten gefälscht waren, mit Hilfe von Goldman Sachs, ist im Mai 2010 die Troika in Athen gelandet. Die zwei ersten Memoranda of Understanding, die Griechenland aufgezwungen wurden wie eine Kugel am Bein, haben das Land noch mehr ausgeblutet. Und das Geld der großen Gläubiger wurde gerettet durch eine humanitäre Krise in Griechenland. Das hatte ich Ende 2011 in meinem Buch „Wie können sie es wagen“
dargestellt.
An diesem Wochenende ist Deutschland noch eine Stufe weiter gegangen. Das dritte
Memorandum ist aus der gleichen Mühle wie die beiden vorhergehenden: es wird die Rezession noch mehr vertiefen, noch mehr das Kapital der Gläubiger schützen und, von Zeit zu Zeit, einen humanitären Almosen für die im größten Elend Lebenden abwerfen. Neu ist, dass dieses Mal die Zügel dieses dritten Memorandums mehr denn je direkt von Berlin gehalten werden. Statt einer Währung der Integration wird der Euro heute eine Währung der politischen Erpressung und der Ausgrenzung. Unter der Drohung, Länder aus ihrer eigenen Währungsunion hinauszuwerfen, verwirklicht das deutsche Establishment mitten in der Krise sein Projekt einer autoritären bundesstaatlichen Europäischen Union. Nur derjenige, der mit Berlin im Einverständnis ist, kann
daran teilnehmen, und demjenigen, der eine andere Politik betreiben will, wird die Tür gewiesen.
Eine neue wirtschaftliche und politische Unterwerfung
Dass es sich nicht nur um eine wirtschaftliche, sondern auch um eine politische Unterwerfung handelt, ist mit dem neuen von Angela Merkel an Athen bekanntgegebenen Ultimatum offenkundg geworden. Griechenland hat drei Tage, um eine ganze neue Serie von Gesetzen durch das Parlament zu bringen. Zwingend, von heute bis Mittwoch. Ob dies demokratisch machbar oder wünschenswert ist, tut nichts zur Sache. Ob es auf ökonomischer Ebene Sinn macht oder nicht, noch weniger. Von heute bis Mittwoch muss die griechische Regierung höhere Raten bei der Mehrwertsteuer einführen, selbst wenn dies eine zusätzliche Verringerung der Kaufkraft und eine weitere Vertiefung der Rezession bedeutet. Von heute bis Mittwoch muss Griechenland auch eine
neue Rentenreform durchbringen, eine Maßnahme, die ebenfalls die Kaufkraft beeinträchtigen und die Wirtschaft noch mehr verlangsamen wird. Diese zwei antisozialen Maßnahmen müssen in Gesetze gegossen werden bis Mitte der Woche, sonst wird die EU Griechenland bankrott gehen lassen. Außerdem müssen nach dem Diktat der EU sowohl die Tarifverträge wie das Streikrecht rigoros eingeschränkt werden, um ausreichende Garantien zu haben, dass die griechischen Lohnabhängigen sich diesem Vertrag von Versailles nicht widersetzen.

Mit der Ermordung des souveränen Griechenland sendet Berlin ein klares SignalMit der Ermordung des souveränen Griechenland sendet Berlin ein klares Signal: es ist keine
andere Politik möglich in der Europäischen Union als die Austeritätspolitik, die wir vorzeichnen. Das ist die Linie der verschiedenen Reformen, die die Eurozone seit 2011 schon beschlossen hat: den Two-Pack, den Six-Pack, das System der europäischen Semester und den Stabilitätspakt.
Reformen, die den europäischen Institutionen immer mehr Macht geben und die von fast der Gesamtheit der traditionellen europäischen politischen Formationen unterstützt werden. Es ist Zeit, dass alle europäischen Fraktionen erneut darüber nachdenken, statt Krokodilstränen zu vergießen.
Denn an diesem Wochenende hat Merkel klar und laut bekundet, dass Deutschland auf dem Gipfel der neuen autoritären Pyramide steht und dass es da eine gute Zeit lang bleiben will.
Berlin dreht Frankreich den Arm um
Merkel hat ein für alle Mal klar gezeigt, dass es Berlin war, das die Leitlinien ausgibt, und nicht Paris. Der französische Präsident Hollande hat in letzter Instanz noch versucht, die schwere Serie von Konzessionen zu unterstützen, mit denen die griechische Regierung zu den Verhandlungen kam, aber er ist an diesem Wochenende auf ein sehr klares „Nein“ der Kanzlerin gestoßen. Deutschland hat Frankreich den Arm umgedreht, und niemand weiß, welche Folgen die Spaltung der französisch-deutschen Achse in der Zukunft haben wird. Es ist auf jeden Fall gewiss, dassdiese Kraftprobe dem französischen Nationalismus einen neuen Ansporn verschafft hat und dass damit die Position der Front National wahrscheinlich gestärkt wurde. An diesem Wochenende sind die Gegensätze in der Eurogruppe an die Oberfläche gekommen, mit den Staaten, die für einen Grexit plädieren, und den Staaten, die ein Abkommen wollten, hat der ehemalige griechische Finanzminister Varoufakis erklärt. Aber alle diese Länder waren immer einmütig in einem Aspekt: in ihrer Weigerung, wirklich zu verhandeln. Mit anderen Worten: in
diesem Europa der Konkurrenz und der Ungleichheiten gibt es keinen Verhandlungsspielraum. Es zählen allein die Sprache des ökonomischen Krieges und die finanziellen Kräfteverhältnisse. Jede Form von Rebellion „bis zum Grunde rasieren“
Es ist unmöglich, Griechenland zu beurteilen, ohne die globalen Kräfteverhältnisse zu
untersuchen. Jede Zeit hat ihren Katalysator. Zwischen den beiden Weltkriegen war es Madrid, das 1936 der Katalysator für das war, was sich im folgenden Jahrzehnt in Europa abspielen sollte.
Heute, 2015, sind Athen und Berlin der Katalysator dessen, was uns in der kommenden Zeit erwartet. Deutschland will ein Europa des Sparzwangs, der Politik der Erdrosselung und der Erpressung und des „Bis zum Grunde Rasierens“ jeder Form von Rebellion durchsetzen. Noch einmal: Griechenland ist nicht in „Verhandlungen“, sondern in einer Situation des Wirtschaftskrieges. Ein Wirtschaftskrieg, der die Banken schließen lässt, der enorme wirtschaftliche Schäden verursacht, der jede Versorgung unmöglich macht und die Produktion praktisch zum Erliegen bringt. Die Folgen sind größer als die eines Wirtschaftsembargos. In diesem Kontext des Wirtschaftskrieges ist den Griechen das europäische Diktat nach 17 Stunden Verhandlungen aufgezwungen worden.
Man gibt Athen den Strick, aber die Griechen sollen sich selbst aufhängen
Die Griechen haben drei Tage bekommen, um unmögliche Diktate durch ihr Parlament billigen zu lassen, ohne jede schriftliche Garantie einer wirklichen Schuldenreduzierung. Das bedeutet, dass die neue griechische Regierung gezwungen ist, ihr eigenes Wahlprogramm zu verleugnen, ebenso wie das Ergebnis des Referendums. Athen wird der Strick gereicht, aber die Griechen haben die Freiheit, sich selber aufzuhängen. Wenn sie es nicht tun, wird die Europäische Union das Land bankrott gehen lassen, und Griechenland wird dann in jeder Weise aus der Eurozone rausgeworfen. Das Ziel dieser Strategie der Verschlimmerung ist es, die Anstrengungen Griechenlands noch mehr zu vergrößern, die interne Dissidenz innerhalb von Syriza anzustacheln und eine Art von Regimewechsel möglich zu machen. Syriza entsorgt sein eigenes Programm, oder eine Regierung der „nationalen Einheit“ – unter der Leitung von Tsipras oder auch nicht –
sorgt für die Verwirklichung der Diktate der Troika.
Wer ein Europa der Gleichheit und der Solidarität will, muss dieses Diktat zurückweisen
Die Griechen haben sich geschlagen, aber sie haben nicht gewonnen. Sie haben wahrscheinlich die Gegenseite unterschätzt: die Betreiber des Wirtschaftskrieges, die in keinem Augenblick an einem Kompromiss interessiert waren und nur die Macht des Stärkeren in den Kräfteverhältnissen zur Geltung bringen wollen. Der einzige Vorteil dieser Situation ist, dass die Griechen den kriminellen Charakter dieser Betreiber des Wirtschaftskrieges bloßgestellt haben.
Vielleicht wäre es besser gewesen, selbst einen Plan B zu erarbeiten, ein vereinbartes
Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone. Der Spielraum, den die deutschen Hardliner für eine andere Politik innerhalb der Eurozone lassen, scheint in der Tat nahe Null zu liegen. Aber man ändert den Lauf der Geschichte nicht mit „wahrscheinlich“ und „vielleicht“. Selbst wenn das griechische Parlament dieses Diktat akzeptiert, wird diese Krise deshalb absolut nicht beendet sein. Es ist gewiß, dass wir in ganz Europa eine starke Front brauchen, um uns der wirtschaftlichen und politischen Diktatur der Troika und der EU-Kommission zu widersetzen.
Es ist auch genau diese Situation, die überall auf dem Kontinent die Tür weit öffnen wird für einen neuen Nationalismus und neue Strömungen der extremen Rechten. Das Athen aufgezwungene skandalöse Diktat ist eine anti-europäische Politik. Das ist die Politik der Konkurrenz, der Ungleichheit und des Stärkeren auf finanzieller Ebene.
Wer ein Europa der Gleichheit, der regionalen wirtschaftlichen Entwicklung und der Solidarität will, muss dieses Diktat zurückweisen. Eine Eurozone der kolonialen Diktate? Nicht in meinem Namen!

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