SYRIZA: „Ein Sandkorn im Getriebe“

SYRIZA: „Ein Sandkorn im Getriebe“

Interview mit Eric Toussaint (Comité pour l’Annulation de la Dette du Tiers Monde,
CADTM, Belgien), geführt von Benito Perez für die überregionale Tageszeitung Le Courrier aus Genf, veröffentlicht am 3. Februar 2015

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Wie beurteilen Sie die ersten Schritte der SYRIZA-Regierung auf ökonomischer Ebene?

Die ersten Maßnahmen nehmen eine Reihe ungerechter, unpopulärer und für das Land unheilvoller Maßnahmen zurück. Konkret hat die Regierung für 300.000 Haushalte, die ohne Strom waren, kostenlose Elektrizität verfügt; den gesetzlichen Mindestlohn wieder auf sein früheres Niveau (751 Euro) angehoben; 3500 Entlassene wieder eingestellt; das von der Troika zur Durchführung der Privatisierungen geschaffene Organ aufgelöst; den Verkauf
der Häfen von Piräus und Thessaloniki gestoppt… Alles in allem hat die Regierung gezeigt, dass sie das von der griechischen Regierung erhaltene Mandat respektiert. Darüber können wir uns nur freuen.

Entspricht mit der Nominierung von Yanis Varoufakis für den Schlüsselposten des Finanzministers die Zusammensetzung der Regierung diesem Geist?

Meinerseits bedaure ich, dass nur Männer unter den zehn „Superministern“ sind, wenngleich mehrere Frauen bedeutende Vizeministerinnen sind. Wenn auf ökonomischer Ebene Varoufakis die Bühne besetzt, so ist die entscheidende Person [der stellvertretende Ministerpräsident] Giannis Dragasakis, der eher zum gemäßigten Teil von SYRIZA gehört. Diese  Regierung ist das Produkt geschickter Gleichgewichte. Betonen möchte ich die sehr bedeutende Präsenz von Giorgos Katrougalos, der mit der  Verwaltungsreform betraut ist und kürzlich die Wiedereinstellung entlassener Personen angekündigt hat. Dieser Jurist gehört wie ich zu den Initiatoren der
Initiative für einen Bürgeraudit der griechischen Schulden!

Die Ernennung von Panos Kammenos zum Verteidigungsminister und die Allianz von SYRIZA mit der Rechtspartei ANEL macht jedoch die Verwirklichung anderer Wahlversprechen – z. B. die Kirche zur Kasse zu bitten und die Armee zu verschlanken – schwieriger.

Ja. Dies sind zwei beunruhigende Konzessionen. Seit anderthalb Jahren gibt Alexis Tsipras positive Erklärungen zur Kirche ab, über ihre Rolle bei der Heilung der sozialen Wunden infolge der Sparpolitik. Er vergisst dabei, an
die Notwendigkeit zu erinnern, dass diese große Grundeigentümerin mehr zu den öffentlichen Finanzen beiträgt.
Was die Präsenz von Kammenos im Verteidigungsministerium betrifft, so ist diese wohl eine Botschaft an die Armee: SYRIZA wird sie nicht anrühren. Der griechische Militäretat ist derzeit proportional einer der bedeutendsten in der Europäischen Union. Deutschland und Frankreich, die hauptsächlich die griechische Armee beliefern, haben stets darauf geachtet, dass die aufeinander folgenden griechischen Regierungen ihre Bemühungen um Einsparungen in diesem Bereich einschränken. Kammenos hat allerdings in der Gestalt des
Vizeministers Kostas Isichos einen Aufpasser erhalten. Isichos, ein aus Argentinien stammender ehemaliger Guerillero der [linksperonistischen] Montoneros, wird der Linken von SYRIZA zugerechnet.
Ich möchte auch betonen, dass trotz der Präsenz einer Partei im Geruch des Rassismus im Kabinett die Regierung sofort Migrantenkindern, die im Land geboren oder aufgewachsen sind, die griechische Staatsbürgerschaft zuerkannt hat. Dies ist im griechischen Kontext wichtig, denn die vorausgegangene Regierung hatte die fremdenfeindliche Karte ausgespielt. SYRIZA zeigt hier, dass sich die Koalition mit ANEL auf ökonomische Fragen beschränkt und sie die MigrantInnen nicht den Preis dafür zahlen lässt.

In der zentralen Frage der Schulden schlagen Stimmen in SYRIZA ein Zahlungsmoratorium vor, das an das Wachstum gebunden werden müsste.

Wenn dies der Fall ist, ist dies schon eine Entwicklung der griechischen Position, die wahrscheinlich den sehr heftigen und sehr negativen Reaktionen verschiedener wichtiger Persönlichkeiten der Eurozone, die bestenfalls eine Neustaffelung der Rückzahlungen in Betracht ziehen, geschuldet ist. Die Einstellung der Zahlung ist, ebenso wie der Schuldenaudit, tatsächlich ein Teil der öffentlich von SYRIZA in Betracht gezogenen Waffen, aber nur in zweiter Instanz. Die erste Strategie der Regierung ist es, eine Verhandlung zu fordern und eine internationale Konferenz zu den gesamten Schulden einzuberufen. Es gibt auch den Willen, die Debatte in das Herz der europäischen Institutionen zu tragen und dabei die illegitime Troika (EZB, IWF, EU) abzulehnen.

Die Fronten scheinen also verhärtet. Ist es eine Posse, um den Einsatz zu erhöhen, oder ein unmöglicher Dialog?

Ich neige zur zweiten Option. SYRIZA schlägt zwei elementare Dinge vor: Wir bewahren den ausgeglichenen Haushalt – dessen können sich nur wenige europäische Regierungen rühmen –, aber wir teilen die Lasten unterschiedlich auf, indem wir die Opfer der Krise entlasten und die Belastungen für die Gewinner verstärken.
Zweitens: Wir verhandeln die Verringerung der Schulden. Für die europäischen Führer sind die Schulden das Instrument zur Durchsetzung neoliberaler Strukturanpassungsmaßnahmen, die SYRIZA zurecht zu beenden beschlossen hat. Es scheint also keinerlei Kompromiss möglich. Äußerstenfalls, wenn SYRIZA gesagt hätte: „Wir machen weiter mit dem neoliberalen Modell, aber ihr erleichtert die Schuldenlast“, hätte die EU vielleicht akzeptiert. Tatsächlich fordert Europa, dass Tsipras sein Wort zurücknimmt. Wahrscheinlich hat man ihm gesagt: „Schauen Sie sich Hollande an, er hat es Ihnen vorgemacht; verhalten Sie sich normal und folgen Sie dem vorgegebenen Weg…“ Das bedeutende Element dieser Woche ist, dass SYRIZA schon jetzt ein Sandkorn ins Getriebe geworfen hat, und das ist entscheidend.

Über welche Waffen verfügt jedes Lager, um die unvermeidliche Kraftprobe zu gewinnen?

Die Zahlen zeigen die 2015 gestellte Herausforderung. Griechenland muss 21 Mrd. Euro in mehreren Raten zahlen, mit den Hauptfälligkeitsdaten März und Juli/August. Es war vorgesehen – von der alten Regierung und von der Troika –, dass die Troika Griechenland das nötige Geld leiht, um seine Rückzahlungen leisten zu können, unter der Bedingung, dass die Privatisierungen und die Sparpolitik fortgesetzt werden.
In dieser Situation ist die Waffe von SYRIZA einfach: Einstellung der Zahlungen. Dann müsste die griechische Regierung meines Erachtens eine Kommission für einen Schuldenaudit schaffen, um zu bestimmen, welche
Forderungen legitim sind und bezahlt werden müssen. Der Audit kann Argumente liefern, um eine Einstellung der Zahlungen oder eine Ablehnung illegaler Schulden (die abgeschlossen wurden, ohne die interne Ordnung des
Landes oder die internationalen Verträge zu respektieren) zu begründen.
Ich habe eine 2013 verabschiedete Verfügung der EU gefunden, das jedes Land unter Strukturanpassung zwingt, für seine Schulden einen Audit zu veranstalten, um erklären zu können, warum diese eine derartige Höhe
erreicht haben, und eventuell Unregelmäßigkeiten zu entdecken.

Wie können Schulden, die von einer demokratischen Regierung ausgehandelt wurden, illegitim sein?

Hauptsächlich durch die Tatsache, dass sie zu missbräuchlichen Bedingungen ausgehandelt wurden. Griechenland wurde gezwungen, eine Politik der sozialen Gegenreform durchzuführen, die eine gewisse Anzahl von Rechten verletzte, sowie eine Sparpolitik, die die Wirtschaft zerstörte und die Rückzahlung unmöglich machte. Man kann auch zeigen, dass die Regierung illegal zugunsten spezieller Interessen gehandelt hat, wodurch die Transaktion nichtig wird. Ein Audit der griechischen Schulden ist leicht zu realisieren: 80 % der Schulden sind in den Händen der Troika und gehen nicht weiter zurück als auf das Jahr 2010.

Sie haben gesagt, dass die Mehrheit der Forderungen an Griechenland nun in europäischer öffentlicher Hand ist. Ist es nicht ungerecht, den europäischen Steuerzahler zahlen zu lassen?

Die Parlamente dieser Länder haben diese Darlehen unter verlogenen Vorwänden akzeptiert. Man sagte: „Man muss Griechenland retten“, „Man muss den armen griechischen Rentnern helfen“, während in Wirklichkeit die
Regierungen Frankreichs, Deutschlands, Belgiens dazu von ihren Banken aufgefordert wurden, die darüber beunruhigt waren zu sehen, dass Griechenland nicht mehr in der Lage war, die von ihnen gewährten Darlehen mit hohem Risiko und zu sehr hohen Zinsen zurückzuzahlen. Ziel von Merkel und Sarkozy war, es ihren Banken zu erlauben, sich schadlos zurückzuziehen, und von der Durchsetzung antisozialer Maßnahmen und Privatisierungen zu profitieren. In Wirklichkeit handelte es sich nicht darum, die griechischen Renten zu retten, sondern sie zu senken! Folglich müssen die Regierungen, wenn die Operation dazu gedient hat, die Gläubigerbanken zu retten, nur die Kosten der Schuldenannullierung mit einer Steuer auf diese Institute ausgleichen.
In Wirklichkeit sind die Summen, die auf dem Spiel stehen, für die EU nicht so bedeutend. Das Fehlen einer Reaktion der internationalen Börsen zeigt klar, dass es kein systemisches Risiko gibt. Die aktuelle Blockade ist vor allem eine ideologische Frage. Für die EU besteht das Risiko darin, einen Präzedenzfall zu schaffen, den eines Landes, das in der EU bleiben könnte, ohne die neoliberale Politik anzuwenden. SYRIZA scheitern zu lassen ist eine Botschaft an die zypriotischen, portugiesischen, irischen und spanischen Wähler. Vor allem letztere könnten in einigen Monaten der Verlockung nachgeben, für Podemos zu stimmen.

Konkret würde eine Einstellung der Darlehensrückzahlungen ein Stopp der europäischen Zahlungen und, für Griechenland, die Explosion der Zinsraten auf den Kapitalmärkten bedeuten. Könnte der Staat dann in eine Liquiditätskrise geraten?

Nein. Nichts deutet daraufhin, dass der Haushalt nicht mehr ausgeglichen wäre. Griechenland benötigt keine Fonds, die in jedem Fall zur Rückzahlung verwendet würden. Und der Teil der griechischen Finanzen, der auf den Finanzmärkten erworben wird, ist minimal. Jedenfalls sind diese Zinsraten schon vor acht Tagen explodiert, während die Zahlungseinstellung noch nicht einmal in Gang gekommen ist.

Über welche Waffen verfügt die EU, um Griechenland zu erdrosseln?

Die griechischen Banken geht es sehr schlecht, umso mehr als ihre Eigentümer die Kapitalflucht organisieren, wie wir an der Börse gesehen haben. Nun erhalten diese Banken Darlehen von der EZB, um ihre Liquidität zu sichern. Ich denke, dass die EZB diese Darlehen blockieren könnte, mit dem Risiko, dass das griechische Bankensystem zusammenbricht. Angesichts dessen muss Griechenland schnell reagieren, die Eigentümer der Institute enteignen und sie in die öffentliche Hand überführen. Aber dies würde eine Radikalisierung des
Projekts SYRIZA implizieren.

Kann die griechische Regierung auf wirkliche internationale Unter- stützung hoffen?

Von den sozialen Bewegungen, ja! Wir haben es in den letzten Wochen gesehen, von zahlreichen Bewegungen, die nie für eine Partei gestimmt haben, aber diesen Schritt jetzt getan haben! Diese Unterstützung kann, besonders in den großen Ländern der EU, sehr wichtig sein. Wenn die großen deutschen Gewerkschaften wie der DGB oder ver.di SYRIZA offen unter- stützten und zur SPD-CDU-Regierung sagten: „Hände weg von Griechenland!“, könnte dies Gewicht haben. Auf der Ebene der Staaten außerhalb der EU können wir uns auch Regierungen vorstellen, die Griechenland in einer opportunistischen Optik unterstützen. Ich denke da vor allem an Russland. Wenn Russland einige Milliarden zu niedrigen Zinsraten, und ohne Bedingungen zu stellen, leihen würde, könnte dies Griechenland helfen. Natürlich würde ich dies von anderen Regierungen bevorzugen. Vor
zehn Jahren hätte Hugo Chávez sicher die Initiative ergriffen. Aber heute hat Venezuela nicht mehr die finanzielle Kapazität.

Ist der von SYRIZA verkündete Bruch möglich, ohne aus dem Euro auszusteigen?

Nun, wir werden sehen! SYRIZA hat eine sehr gute Formel: „Kein Opfer für den Euro“, denn er lohnt nicht die Mühe. SYRIZA wird nicht die Initiative ergreifen, um die Eurozone zu verlassen, wenn sie nicht dazu gezwungen wird, denn die Mehrheit der Bevölkerung hält an der Einheitswährung fest. Ein Austritt aus der Eurozone wäre nur von Interesse im Falle der Verstaatlichung der Banken und der strikten Kontrolle der Kapitalbewegungen, was das Zögern seitens des weniger radikalen Flügels von SYRIZA erklärt. Eine solche Entscheidung würde generell die Intensität des Konflikts mit Europa erhöhen.
Das Interesse der Regierung wäre, sich in einer neuen nationalen Währung bei der eigenen Nationalbank verschulden zu können. Natürlich unter der Bedingung, dass die Bevölkerung ein großes Vertrauen in diese „neue Drachme“ setzt. Man könnte sich auch eine umverteilende Währungsreform vorstellen, mit einem Wechselkurs, der entsprechend dem Volumen der Transaktion differenziert ist, um die weniger Wohlhabenden zu begünstigen. Solches ist bereits geschehen, beispielsweise in Belgien kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, und ermöglicht auch die Bekämpfung der Inflation.
Dagegen wäre eine Abwertung, um die griechischen Exporte attraktiver zu machen, für die Kaufkraft der Bevölkerung riskant – und würde auch im Rahmen der Logik des Wettbewerbs verbleiben.
Die Länder der Eurozone haben ihrerseits kein Interesse daran, Griechenland auszuschließen. Nein, es sei denn als politische Bestrafung. Um zu zeigen, was es kostet, wenn man rebelliert. Aber es existiert keinerlei legaler Mechanismus dafür. Im aktuellen Kontext sind die Maßnahmen der SYRIZA-Regierung mutig, sie bestehen jedoch in der Rückkehr zu einem früheren, nicht gerade progressiven Zustand.

Es gibt auch diesen Appell für einen europäischen New Deal. Was ist im Grunde das politische Projekt von SYRIZA?

Offen gesagt, stelle ich mir dieselbe Frage. Aber der Kalender ist so beschaffen, dass wir es schon in den nächsten Monaten wissen werden. Bislang war es die Option, ein wenig Sozialstaat wieder zu erlangen. Wir sind
noch weit davon entfernt, zur früheren Situation zurückzukommen! Jenseits von SYRIZA ist meine Sorge, dass die europäische radikale Linke nicht mehr die Perspektive einer alternativen Macht außerhalb des Rahmens eines
reglementierten Kapitalismus sieht. Sicherlich ist das Kräfteverhältnis nicht gut, und die Wiederherstellung sozialer Rechte ist bereits ein Fortschritt. Aber es hat so viele Opfer gegeben! Der Kapitalismus hat so klar gezeigt, wohin er uns führt, dass dies ein Motiv ist, einem sozialistischen oder emanzipatorischen Projekt, oder wie wir es auch immer nennen, eine Chance zu geben, das der sozialen Ungerechtigkeit ein Ende bereitet und bei dem die Bevölkerung direkt an den politischen und ökonomischen Entscheidungen der Gesellschaft beteiligt ist.
Ich würde es bedauern, wenn all diese Leiden, all diese Anstrengungen nur zu einem ein wenig stärker  regulierten Kapitalismus führten. Natürlich müssen diese Veränderungen mit der Zustimmung der Bevölkerung, zu ihrem Rhythmus durchgeführt werden. SYRIZA ist gewählt worden, um ein wenig soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen, nicht auf einem Emanzipationsprogramm. Aber um die Bevölkerung mit sich fortzureißen,
muss man ihr ein Projekt, eine Perspektive präsentieren. Und in diesem Bereich gibt es ein wirkliches Defizit an Reflexion und Ausarbeitung.

Aus dem Französischen übersetzt von Hans-Günter Mull, Mitarbeiter der Sozialistischen Zeitung (SoZ), Köln, http://www.sozonline.de/
Original: Syriza: «Un grain de sable dans l’engrenage»
http://www.lecourrier.ch/127395/syriza_un_grain_de_sable_dans_l_engrenage

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